Tagebuch
Die Künste als Archive eines Ausgleichswissens
Cornelia Zumbusch zum Nachdenken über Gleichgewicht im Warburg-Haus anlässlich der Tagung Latente Spannungen - Figuren des Äquilibriums
Das Deckenlicht im Lesesaal der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg ist nicht rund, sondern oval. Durch diese Glaskonstruktion wird der elliptische Raum augenfällig. Die Ellipse war für Warburg als Denkfigur zentral, und das aus mehreren Gründen.
In Warburgs Forschungen zur Geschichte der Astrologie und der Astronomie hat die Entdeckung Johannes Keplers, dass sich die Planeten nicht auf kreisförmigen, sondern auf elliptischen Bahnen bewegen, eine zentrale Funktionsstelle. 1605 entdeckt, 1609 veröffentlicht, markiert Keplers Beschreibung des Kosmos in Warburgs Augen den entscheidenden Schritt über eine Modernitätsschwelle. Er begreift Keplers Einsatz als Befreiungsmoment – als Emanzipation von traditionellen Denkmustern und Topoi, die im Vertrauen auf die eigenen Messdaten aufgegeben werden.
Wichtig ist für Warburg aber vor allem die Tatsache, dass der Moderne damit ihr Zentrum abhanden gekommen ist. Geometrisch lässt sich die Ellipse konstruieren, indem man statt eines Mittelpunktes zwei Brennpunkte setzt, die Ellipse ist dann die Bahn, die ein Körper bei der Bewegung um zwei Wendepunkte beschreibt. Die Bewegung zwischen zwei Punkten, zwischen zwei Extremwerten adressiert Warburg auch als Pendelschwingung, für die er sich ebenfalls interessiert. Die Physik beschreibt die Pendelbewegung als Transformation von potentieller Energie in kinetische Energie. Diese Umwandlung der Energieformen bildet für Warburg ein Modell für menschliche Wahrnehmungs- und Erkenntnisvorgänge, für menschliche Kultur- und Weltbeschreibungsleistungen und nicht zuletzt für die Kunst selbst. Als wahrnehmende Wesen pendeln wir zwischen sinnlichem Eindruck und begrifflicher Fixierung, der Künstler schwankt zwischen Affekt und Reflexion.
In der Ellipse ist also sowohl die exzentrische Bahn der Planeten, als auch das Schwanken des Pendelns zur Form geworden. Die Ellipse beschreibt eine mathematisierte Abweichung, eine geregelte Unregelmäßigkeit in der Bewegung von Körpern. Als formgewordenes Gesetz der Krafterhaltung impliziert das Pendel für Warburg zugleich ein Energiesymbol: die Spannung zwischen den Gegensätzen ist hier nicht getilgt, sondern präsent gehalten, ja offensiv vorgezeigt.
Diese Denkfigur strukturiert nicht zuletzt Warburgs Geschichtsdenken. Denn die Ellipse mit ihren zwei Brennpunkten war für Warburg Zeichen eines menschlichen Weltverhältnisses, das grundsätzlich zwischen zwei Polen schwankt: sei es zwischen Magie und Mathematik, konkretem Körper und abstraktem Zeichen, manischer Bewegung und melancholischer Hemmung. Das Verhältnis der Gegensätze lässt sich nur bedingt als kontinuierlicher Fortschritt fassen: Zwar möchte Warburg der Geschichte der Kunst durchaus Zeichen einer kontinuierlichen Entdämonisierung oder Aufklärung ablesen – ein störungsfreies Narrativ (etwa: vom Mythos zum Logos) ergibt sich daraus aber nicht. Vielmehr hat sich Warburg den immer neu ansetzenden Vermittlungsbemühungen gewidmet, den immer nur für einen Moment gelungenen Ausgleichsleistungen.
Modellierung des Ausgleichs als Ausgleichsgeschehen in der Kunst
Diese Modellierung des Ausgleichs als einem Ausgleichsgeschehen findet Warburg nicht nur in der Geschichte der Kosmologie, sondern auch in der Kunst. Seit seinen Studien zur Kunst der Renaissance stellt Aby Warburg die Leistungen der Kunst in den Dienst unterschiedlicher Ausgleichsaufgaben. Kunst steht erstens im Rahmen einer ›Ausgleichspsychologie‹, die auf einen ›ethischen Gleichgewichtszustand‹ zielt: Hier geht es um die wechselseitige Spiegelung einer Ethik und einer Ästhetik des Ausgleichs. Sie vermittelt zweitens zwischen magischem und mathematischem, körperlich-affektivem und rationalem Weltverhältnis, und sie organisiert drittens Kompromissbildungen in der historischen Abfolge konkurrierender Stile (Idealismus, Realismus, Manierismus).
Entscheidend ist, dass man ihren Vermittlungsleistungen die Heterogenität noch ansieht: Warburgs Bildlektüren entzünden sich bekanntlich an den Fremdkörpern, den dynamischen Störmomenten, den Anachronismen und Relikten. Und nur aus dieser Perspektive können dann die auf einem schwankenden Schiff stehenden fortuna, wild galoppierende Kentauren oder ein trübsinniger Engel (Dürers melencolia I) als Ausgleichsprodukte gelten – so in Warburgs Aufsatz zum Vermächtnis Francesco Sassettis und in Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild. Wenn Warburg von Gleichgewicht spricht, dann denkt er ganz offensichtlich nicht an herkömmliche Modelle von Proportion, Harmonie oder Goldenem Schnitt. Äquilibrium kann also mit Warburg als Zustand verstanden werden, der Spannungen latent hält: Er errichtet sich auf starken gegensätzlichen Energien, er kann seinen Kollaps nur für eine Weile aufhalten, und man sieht ihm den Aufwand der Ausgleichsleistung prinzipiell an.
Die Künste als Archive eines Ausgleichswissens
Der Fokus auf die Modellierung von Ausgleichsleistungen verbindet historische Vorstellungen von Gleichgewicht – ansetzend in der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart – in diversen Disziplinen und auf unterschiedlichen kulturellen Feldern: In welchen Techniken und Verfahren wird Gleichgewicht gedacht? Und wie werden Gleichgewichtszustände sprachlich oder visuell projiziert und repräsentiert?
Eine zentrale Vermutung betrifft das Verhältnis von Kunst und Ausgleichsverfahren. Dies ist nicht nur im Sinn einer Programmatik der Philosophischen Ästhetik gemeint. Spätestens seit Kant soll Kunst ja bekanntlich zugleich Produkt und Agens von Ausgleich sein: Sie verdankt sich einem harmonischen Spiel der Vermögen und verspricht einen mittleren Gleichgewichtszustand zwischen Sinnlichkeit und Verstand/Vernunft herzustellen. Wir gehen vor allem davon aus, dass die Künste als Archive eines Ausgleichswissens gelten können – und zwar insbesondere in den künstlerischen und literarischen Verfahren, in denen Ausgleichsdynamiken ins Werk gesetzt werden werden. Interessant sind etwa Praktiken des Vergleichens. Um etwas ausgleichen zu können, muss ja etwas Vergleichbares aufgewandt werden: Dies gilt für Schulden wie für Rechtsverletzungen: Sobald man über das Aufrechnen »Zahn um Zahn, Auge um Auge« oder den direkten Warentausch hinausmöchte, muss man Entsprechungen suchen und plausibilisieren. Also: Ware gegen Geld, Schmerzensgeld gegen Körperverletzung.
Auskunft über die Organisation eines solchen Wissens über Vergleichbarkeiten, und Ausgleichsmechanismen können künstlerische Formentwürfe und Verfahren geben. So verlangt die Prozessualität von Mangel oder Verlust, Übertretung oder Übermaß, die ›irgendwann‹ ausgeglichen werden sollen, nach unterschiedlichen Verlaufsbeschreibungen. Sei es als Häufung von Unglücksfällen, die irgendwann ausgeglichen werden sollen, sei es als Verschuldung, die sukzessive abgetragen wird – gelingender Ausgleich als Modus auch ›poetischer Gerechtigkeit‹ wird erst in entsprechenden Narrativen darstellbar, die in der Literatur erprobt und für theoretische Modellierungen bereitgestellt werden. Neben den bereits genannten geometrischen Konstruktionsmodellen und technischen Apparaturen wie Ellipse, Pendel oder Waage sind deshalb auch Verlaufsmodelle in Betracht zu ziehen; also Bewegungsformen und Gangarten, dramatische und narrative Verknüpfungsverfahren, aber auch Regelkreise und kybernetische Modelle.
von Cornelia Zumbusch
anlässlich der interdisziplinären Tagung LATENTE SPANNUNGEN – FIGUREN DES ÄQUILIBRIUMS im Rahmen des Schwerpunktthemas » Latenz in den Künsten« im Warburg-Haus, 22.-24.6.2017
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