Tagebuch
Bildkarte des Monats: Februar
Fundstücke aus dem Digitalisierungsprojekt »Bildindex zur Politischen Ikonographie«
Vom politischen Pathos zum antiken Mythos
Über Leerstellen im »Bildindex zur politischen Ikonographie«
In der Rubrik »Revolution« des Bildindex zur Politischen Ikonographie stößt man zwischen den Registerblättern des kleinteilig gegliederten Systems aus Ober- und Unterkategorien auf eine Leerstelle, die zunächst mehr Rätsel aufgibt, als dass sie Antworten liefert. Unter dem Stichwort »Chinesische Revolution« (385/33) findet sich nur eine einzige Bildkarte, die man zwischen materialreich bestückten Abteilungen, etwa solchen wie »Aufstände bis 1700« oder »Biblische Rebellen«, beinahe übersehen könnte. Die auf ihr zu sehende Schwarz-Weiß-Fotografie, die auf eine weiße Karte im genormten Postkartenformat geklebt wurde, stammt, so lässt sich aus den handschriftlich ergänzten Informationen ablesen, aus dem Jahr 1912. Die verwendete Reproduktion selbst, rechtsbündig auf der Kartei angebracht, wird durch einen Buchfalz gestört, da sich die im Druck publizierte fotografische Aufnahme offenbar über eine Doppelseite erstreckte. Dieser transmediale Bildbeitrag entstammt, so ist der Karte links unten zu entnehmen, einer populären Reihe von Bildchroniken, die vom Dortmunder Harenberg Verlag im Jahr 1993 herausgegeben wurde. Weiterhin erläutert dieselbe handschriftliche Ergänzung, der schon das Entstehungsjahr zu entnehmen war – sie ist, ähnlich einer subscriptio, in die emblematische Gesamterscheinung der Bildkarte eingebunden –, den historischen Zusammenhang des Abgebildeten: »1912 – Ende des Konfuzianischen Kaiserreichs in China: Die alten Zöpfe fallen«.
Es ist das einzige Bilddokument innerhalb der Rubrik »Chinesische Revolution« und schon deshalb bemerkenswert, da es nicht dem Kosmos der propagandistischen Bilder aus der Zeit der »Großen Proletarischen Kulturrevolution« unter Mao Zedong zugehörig ist, die ab 1966 zehn Jahre andauerte und als eine der staatsideologisch prägendsten Kampagnen in die neuere Geschichte Chinas eingegangen ist, sondern in eine frühere politische Schwellenzeit datiert wird, deren Bilder dem kollektiven Gedächtnis aufgrund ihrer geringeren massenmedialen Verbreitung weitaus weniger präsent sein dürften. In der Abbildung, gerahmt von der »unechten« Kompositionslinie des Buchfalzes, die das Bild durch die drucktechnische Adaption jäh in zwei ungleich proportionierte Teile gliedert, ist es vor allem eine Gruppe von zwei hintereinanderstehenden, dreiviertelfigurig dargestellten Männern, die hier, mehr noch als in der ursprünglichen Fotografie intendiert, visuelle Präsenz erhält. Ein innerbildliches Pendant findet diese Bildstörung in der Darstellung des langen, geflochtenen Zopfes, der, als offenbar bereits abgetrenntes Hauptmotiv des Bildes, vom Uniformierten wie eine Trophäe der Kameralinse entgegengehalten wird und senkrecht über die gesamte Bildhöhe reicht. Sowohl durch den zum Bildelement gewordenen Buchfalz, wie auch durch den Zopf erhält das Bild seine triptychon-artige Gliederung, wodurch die beiden Hauptfiguren der Fotografie ihren symbolhaft-ästhetischen Status erhalten. Vor allem die Kleidung der Männer steht deutlich für zwei unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche und transportiert eben jenen Eindruck von Liminalität, für die das Dargestellte steht. Das Abschneiden, in der antiken wie biblischen Mythologie stets eine schicksalhafte Handlung (Abschneiden des Lebensfadens, der Haare Samsons durch Delila), rückt damit ins motivische Zentrum der Fotografie.
Der Zopf als Sinnträger ist indes schwer mit politischem Pathos beladen: Bereits im Jahr 1644, dem Jahr der Thronbesteigung durch Shunzhi (順治), dem ersten Kaiser der mandschurischen Qing-Dynastie (1644-1911), wurde ein Gesetz verabschiedet, das unter Androhung der Todesstrafe allen männlichen Untertanen, auch den Han-Chinesen, das Tragen von dessen Haartracht aus geschorenem Kopf und langem Zopf befahl – ein Bekenntnis zur Loyalität dem fremdstämmigen Herrscher gegenüber: »Behalte das Haar, verliere den Kopf« (留发不留头 liu fa bu liu tou). Spätestens im 19. Jahrhundert ist dieses Merkmal einer kollektiven politischen Identität aus westlicher Perspektive untrennbar mit kulturellen Klischeevorstellungen verbunden. So veröffentlichte beispielsweise eine der ersten deutschsprachigen Illustrierten, die Zeitschrift Gartenlaube, im Jahr 1858 einen Artikel, der preisgibt, wovon der Blick auf das Fernöstliche geleitet wurde. In überzeichnetem Jargon soll darin die Erzählung von oberflächlichen Assimilationsübungen europäischer Reisender zur Zerstreuung der Leserschaft beitragen: »Zu den Schwierigkeiten, mit denen der Reisende im Innern China’s zu kämpfen hat, gehört […] eine möglichst täuschende Verkleidung, um als Eingeborner gelten zu können. Hellfarbige Augen können leicht mit gefärbten Brillen verdeckt werden, schwieriger aber ist das Tragen eines künstlichen Zopfes; der Kopf muß bis auf ein Büschel Haare am Scheitel rasirt und das gefälschte Anhängsel an dieselben befestigt werden« (Die Gartenlaube 4/1858, S. 56). Die Zöpfe und damit schließlich auch der Ballast einer politischen und kulturellen Krise, die in China seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert anhielt, fallen im Herbst des Jahres 1911 mit der Ausrufung der sogenannten Xinhai-Revolution (辛亥革命). Was im symbolischen Entfernen des Haarschopfes impliziert wurde, war eine kollektive, wenn auch in vielen Fällen nicht freiwillige kathartische Handlung, die den Übergang vom Kaiserreich zur ersten Republik Chinas markierte. Der Kreuzzug der triumphalen Geste des Haarabschneidens, massenhaft auf den Straßen der Großstädte vollzogen, fand ab 1911 weltweit in der Berichterstattung der Nachrichtenblätter Niederschlag und erinnerte an die rassistischen Ausschreitungen, bei denen dies, etwa in den USA oder Australien, bereits im 19. Jahrhundert geschehen war.
Die Fotografie auf der Bildkarte, die sich als singuläres ikonisches Dokument in der Rubrik »Revolution« finden lässt, zeigt mithin einen politschen Akt, eine den Sieg der Revolutionäre über das alte Herrschaftssystem ins Bild setzende Handlung – eine Pathosformel. Doch die vereinzelte Karte geht im Bildindex zur Politischen Ikonographie eine kommunikative Wechselwirkung mit anderen Bildbelegen ein, die dort in benachbarten Rubriken zu finden sind. Unter dem Stichwort »Mythologie« (310) beispielsweise blättert man durch eine Abfolge von Marsyas-Ikonografien, die in dem Hintereinander dutzender Bildkarten einer szenischen Sukzession von Filmbildern gleicht. Es sind Illustrationen, die sich einzelnen Episoden des Mythos widmen, der literarisch unter anderem in den Metamorphosen Ovids geschildert wird. Auch eine Karte mit der Reproduktion eines Stiches von Melchior Meier aus dem Jahr 1568 kann man dort finden, der den Moment nach vollzogener Vergeltungstat verbildlicht und dabei zwei unterschiedliche Szenen aus den Metamorphosen kombiniert: Der Gott des Gesangs, Apoll, hatte mit seiner Tat die Hybris des Satyrn bestraft, der es gewagt hatte, den Olympier mit einer Rohrflöte zum musikalischen Wettkampf herauszufordern. Hier erscheint auf dem Stich der geschundene Körper mit der exponierten Muskulatur, dort die abgezogene Haut, die nach vollendeter Exzision dem Midas präsentiert wird, der selbst an anderer Stelle einen Wettstreit gegen Apoll verloren hatte. Der Triumph des einen über den anderen, vollzogen durch den Angriff auf dessen körperliche Integrität, steht sowohl auf der Karte mit dem Kupferstich Meiers, als auch auf der Fotografie von 1912 im Vordergrund. Es ist ein Vergleich, der exemplarisch für viele solcher Leerstellen gelten kann, für die der Bildspeicher des Bildindex zur Politischen Ikonographie eine Verknüpfung einfordert.
Elif Akyüz
Bilder als Akteure des Politischen / Politische Ikonographie
Neuerscheinung: Politische Emotionen in den Künsten
Mnemosyne. Schriften des internationalen Warburg-Kollegs, Band 7
herausgegeben von Philipp Ekardt, Frank Fehrenbach und Cornelia Zumbusch Januar 2021, ISBN 978-3-11-071130-1 (gebunden), ISBN 978-3-11-072538-4 (eBook), € [D] 69,95 Angst, Sorge, Empörung, Hass, Verachtung, aber auch Vertrauen, Hoffnung, Mitleid, Empathie oder Sympathie gelten als Movens sowohl…
Neuerscheinungen / Politische Emotionen / Warburg-Kolleg
Online: Vortrag des Wissenschaftspreisträgers der Aby-Warburg-Stiftung 2018: Andrea Pinotti, Mailand
Replik der Gewalt, Replik auf die Gewalt
Im Namen der Vorsitzenden der Aby-Warburg-Stiftung Katharina Fegebank, Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg, lud das Warburg-Haus am Dienstag, den 4. Dezember 2018 feierlich zum Vortrag des Wissenschaftspreisträgers der Aby-Warburg-Stiftung 2018, Andrea Pinotti. Cornelia…
Aby Warburg / Politische Emotionen / Publikationen / Wissenschaftspreis
Online: Vortrag von Irene Neverla, Hamburg
Emotionskulturen im (visuellen) Journalismus
Im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema „Politische Emotionen“ sprach Irene Neverla am Dienstag, den 27. November um 19 Uhr im Warburg-Haus über „Emotionskulturen im (visuellen) Journalismus“. Irene Neverla ist emeritierte Professorin für Journalistik und…
Politische Emotionen / Publikationen
Gespenster in Europa. Alternativen für ein anderes Zusammenleben
Themennachmittag mit Kuratorenführung im Kunstverein in Hamburg und Podiumsgespräch im Warburg-Haus
zur Ausstellung Klassenverhältnisse – Phantoms of Perception 17 Uhr Kuratorenführung in der Ausstellung mit Bettina Steinbrügge, Benjamin Fellmann und Tobias Peper Kunstverein, Klosterwall 23 19 Uhr, Warburg-Haus: Podiumsgespräch Gespenster in Europa. Alternativen für ein anderes…
Ausstellung / Politische Emotionen
Online: Vortrag von Hermann Kappelhoff, Berlin
Ein Gefühl für das Gemeinschaftliche: Das Genrekino als Erfahrungsraum urteilenden Denkens
Im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema „Politische Emotionen“ sprach am Dienstag, den 16. Oktober um 19 Uhr Hermann Kappelhoff im Warburg-Haus über das Genrekino als Erfahrungsraum urteilenden Denkens. Hermann Kappelhoff ist Professor am Seminar für Filmwissenschaft der FU Berlin…
Politische Emotionen / Publikationen
Politische Emotionen
Fortsetzung der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema und Veranstaltungen im zweiten Halbjahr 2018
Angst, Sorge, Empörung oder Verachtung, aber auch Vertrauen, Hoffnung, Mitleid, Empathie oder Sympathie werden momentan als politische Kräfte verstärkt diskutiert. Über die zentrale Rolle von Emotionen in politischen Prozessen scheint man sich zwar einig zu sein: Sie gelten als Movens sowohl…
Politische Emotionen
Online: Vortrag von Aby-Warburg-Stiftungsprofessor 2018 Alexander Honold
Rausch, Taumel, Schicksalsergebenheit: Im Planetarium des Krieges
Am Montag, den 2.7.2018 lud die Vorsitzende der Aby-Warburg-Stiftung, Katharina Fegebank, Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg, zum Festvortrag des diesjährigen Stiftungsprofessors. Alexander Honold hielt seinen Vortrag im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema…
Politische Emotionen / Publikationen / Warburg-Professur
Thementag in der Hamburger Kunsthalle: Katastrophen und ihre Wahrnehmung
Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle und der Forschungsstelle »Naturbilder« zur Ausstellung »Entfesselte Natur. Das Bild der Katastrophe seit 1600«
Am 5. Juli fand in der Hamburger Kunsthalle im Rahmen des Jahresschwerpunktes »Politische Emotionen« als Kooperation des Warburg-Hauses, der Hamburger Kunsthalle und der Forschungsstelle »Naturbilder« der Universität Hamburg der Thementag Katastrophen und ihre Wahrnehmung zur Ausstellung…
Politische Emotionen
Der Vortrag von Fritz Breithaupt, Bloomington, am 21. Juni fällt leider aus
Die dunklen Seiten der Empathie
Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass der Vortrag von Fritz Breithaupt am Donnerstag, den 21.06.2018 kurzfristig aufgrund von höherer Gewalt ausfallen muss. Bedauerlicherweise konnte er infolge von Flugausfällen nicht wie geplant rechtzeitig zum Vortrag aus den USA anreisen. Wir bitten, den…
Politische Emotionen
Filmprojektion im Lesesaal: Noam Chomsky und die Medien
»Die Konsensfabrik« (Can, 1992) in Kooperation mit »Flexibles Flimmern«
Das Warburg-Haus fragt 2018 mit seinem Schwerpunktthema nach der politischen Bedeutung von Emotionen. Angst, Sorge, Empörung oder Verachtung, aber auch Vertrauen, Hoffnung, Mitleid, Empathie oder Sympathie werden momentan als politische Kräfte verstärkt diskutiert. Während die einen den Mangel…
Politische Emotionen
Antiromantisches Manifest
Lesung der französischen Autorin Marie Rotkopf, anschließend Gespräch mit Frank Adloff (Universität Hamburg), Moderation: Benjamin Fellmann (Warburg-Haus)
Im Rahmen des Jahresschwerpunktes Politische Emotionen las am Donnerstag, den 29. Mai 2018 die französische Schriftstellerin, Künstlerin und Kulturkritikerin Marie Rotkopf im Warburg-Haus aus ihrem Antiromantischen Manifest. Die Veranstaltung fand als Kooperation mit dem Verlag Edition Nautilus,…
Politische Emotionen
Online: Vortrag von Sigrid Weigel
Vom Mitgefühl
Im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema Politische Emotionen sprach Sigrid Weigel am Dienstag, den 15.5.2018 im Warburg-Haus »vom Mitgefühl«. Sigrid Weigel ist seit 2005 Regular Visiting Professor at the German Dept. of Princeton University, ehemalige Direktorin des ZfL Zentrums für…
Politische Emotionen / Publikationen
Online: Vortrag von Hans-Peter Krüger
Zur politischen Gefühlskultur in der Demokratie
Auftaktvortrag zur Vortragsreihe zum Schwerpunktthema Politische Emotionen am 26.4.2018 im Warburg-Haus von Hans-Peter Krüger, Inhaber der Professur für Politische Philosophie/ Philosophische Anthropologie an der Universität Potsdam. Die Aufzeichnung erfolgte durch das Team des eLearning-Büros…
Politische Emotionen / Publikationen
Filmprojektion im Lesesaal: Aby Warburg und der Erste Weltkrieg
"Rather Die Than Die" (F, 2017) von Natacha Nisic mit »Flexibles Flimmern«
Am Montag, den 16. April 2018 und Dienstag, den 17. April zeigte das Warburg-Haus in Kooperation mit »Flexibles Flimmern. Das mobile Kino« im vollen Lesesaal den Film Rather Die Than Die (Eher Sterben als Sterben) der Pariser Künstlerin Natacha Nisic. Der Film ist eine Auftragsarbeit des…
Politische Emotionen
Neuerscheinung DVD »Rather Die Than Die« von Natacha Nisic
Ein Film der Pariser Künstlerin über Aby Warburg und den I. Weltkrieg, der zum Teil im Warburg-Haus gedreht wurde
Für ihren jüngsten Film »Plutôt mourir que mourir« / »Rather Die Than Die« (Eher Sterben als Sterben), eine Auftragsarbeit des französischen Kulturministerium unter Federführung des Centre national des arts plastiques aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums des Endes des I. Weltkrieges…
Neuerscheinungen / Politische Emotionen
Politische Emotionen
Schwerpunktthema 2018
Angst, Sorge, Empörung oder Verachtung, aber auch Vertrauen, Hoffnung, Mitleid, Empathie oder Sympathie werden momentan als politische Kräfte verstärkt diskutiert. Über die zentrale Rolle von Emotionen in politischen Prozessen scheint man sich zwar einig zu sein: Sie gelten als Movens sowohl…
Politische Emotionen