Tagebuch
Bildkarte des Monats: Mai
Fundstücke aus dem Digitalisierungsprojekt »Bildindex zur Politischen Ikonographie«
Die Zeche als moderner Bergfried
Bergwerksdarstellungen vom Wolfegger Hausbuch bis zu Johann Josef Leyendecker
Ein gut funktionierendes Bergwerk war seit jeher eine der Voraussetzungen für viele prosperierende Städte und so manches Königtum. Wertvolle Erze und Edelsteine konnten abgebaut, Münzen, Waffen und Schmuck aus ihnen hergestellt werden. Darüber hinaus hatten nicht wenige technische Innovationen hier ihren Ursprung. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass sich im Bildindex zur Politischen Ikonographie unter dem Stichwort »Bergbau« (515/10) über 300 Karten zu eben jenem Gegenstand finden lassen. Aus ihnen sticht eine Darstellung, reproduziert auf einer Bildpostkarte, durch ihre besondere Geschichte hervor: Die um 1480 entstandene kolorierte Federzeichnung entstammt einem spätmittelalterlichen Hausbuch, das sich seit dem 17. Jahrhundert im Besitz der oberschwäbischen Adelsfamilie Waldburg-Wolfegg-Waldsee befand. Jüngst stand das sogenannte Wolfegger Hausbuch in den Schlagzeilen, da Fürst Johannes von Waldburg-Wolfegg-Waldsee es zunächst ohne die nötige Zustimmung des Regierungspräsidiums Tübingen für vermutlich 20 Millionen Euro an den Unternehmer August François von Finck verkaufte. Dieser erst nachträglich genehmigte Verkauf ist zusätzlich von politischer Brisanz, da die Familie des Multimilliardärs von Finck bekanntlich zu den finanzkräftigsten Unterstützern der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland zählt. Eine für die Tiefenbezüge des Bildindex bezeichnende Parallele ergibt sich außerdem dadurch, dass in der Kategorie »Amerika / USA« (25) ein Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. Juni 2001 mit dem Titel Ein Fürst verkauft Amerikas »Geburtsurkunde« eingerückt wurde. Die damit gemeinte »Waldseemüller-Karte« befand sich ebenfalls im Besitz des Hauses Waldburg-Wolfegg-Waldsee.
Hausbücher sind immer eine Sache des Adels gewesen. So enthält das Wolfegger Hausbuch – das nunmehr als Fincksches Hausbuch firmieren müsste – ein illustriertes Kompendium nützlichen wie unterhaltsamen Wissens für Herrscherfamilien: Von freizeitlichen Betätigungen wie der Hoch- und Niederwildjagd über Szenen aus einem Liebesgarten bis hin zu Werttabellen für Gold sowie Regeln zur doppelten Buch- und strategischen Kriegsführung. Die in den Bildindex eingegangene Zeichnung setzt verschiedene technische und soziale Phänomene des spätmittelalterlichen Erzbergbaus in Szene. Auftraggeber und Schöpfer bleiben leider anonym, standen jedoch mit großer Sicherheit in Verbindung zum Hochadel am Hofe des Habsburgers Friedrich III. Bereits auf den ersten Blick ist das landschaftsverändernde Moment des Bergbaus zu erkennen. In den fantastisch geformten Berg sind zahlreiche Stollen und Schächte eingetrieben, aus denen die Bergleute entweder das Erz herauskarren oder es an handbetriebenen Haspeln aus der Tiefe kurbeln. Aufgrund dieser regen Tätigkeit ist der Berg mit Ausnahme seines Gipfels bereits vollkommen kahlgeschlagen, am linken oberen Bildrand befindet sich darüber hinaus ein Kohlenmeiler, denn Holzkohle war damals für die Eisenverhüttung unverzichtbar.
Das radikale Abholzen der Wälder durch den Bergbau sowie der Einfluss auf das Ökosystem der ländlichen Bevölkerung sind nicht erst seit den aktuellen Ereignissen um den Hambacher Forst ein konfliktgeladenes Thema. Bereits Georg Agricola nahm die schon vor der Industrialisierung hitzig geführte Debatte zum Anlass, um sein epochemachendes Hauptwerk De re metallica libri XII (1556) mit einer Apologetik des Bergbaus einzuleiten. Zwar führt er die gängigen Vorbehalte gegen den Bergbau an – Vergiftung von Gewässern, Verwüstung von Feldern und Wäldern –, doch als mehrfacher Bürgermeister von Chemnitz hebt er die »nützlichen Seiten« des Bergbaus hervor. Seine Argumentation läuft – wie die Beschwichtigungsversuche rheinischer Lokalpolitiker gegenüber den Umweltaktivisten unserer Tage – darauf hinaus, dass der Bergmann »in kurzer Zeit großen Reichtum« schöpfen könne. Hinter dem kahlgeschlagenen Berg im Zentrum des Bildes verbirgt sich also gewissermaßen der zerstörte Lebensraum mittelalterlicher Bauern um des wirtschaftlichen Vorteils willen.
Über das ökologische Element des Bergbaus hinaus steckt in der minutiös wiedergegebenen Szene viel politischer Gehalt. Zentral ist hier der juristische Begriff der Bergfreiheit, denn Bodenschätze und Grundeigentum waren seit dem Hochmittelalter voneinander entkoppelt. Dies garantierte, dass jederzeit und überall, wo ergiebiges Erzvorkommen gefunden wurde, eine Bergstadt entstehen konnte, die ihren eigenen Gesetzen folgte. Hierauf deutet das noch im Bau befindliche Gebäude samt eisenvergittertem Kerker am linken Bildrand. Die durch die Bergfreiheit nicht feudal gebundenen, in diesem Sinne »freien« Bergleute genossen aufgrund ihrer nicht ungefährlichen Wanderschaft auch das Privileg, Waffen tragen zu dürfen. Mit alldem ging ein notorisch regelwidriges Verhalten einher. Häufig überliefert sind Geschäfte mit gestohlenem Erz, die im Bild vermutlich Auslöser für den gewalttätigen Konflikt im Vordergrund sind.
Das Vorrecht auf den Edelmetallbergbau lag in den Händen der Landesherren oder Territorialfürsten, die den Gewerken, also den vorindustriellen Bergbauunternehmern, entsprechende Befugnisse erteilten. Die Reiter am rechten Bildrand können deshalb als Gesandte des Bergregalinhabers gedeutet werden, die ihrer Aufsichtspflicht nachkommen oder den Zehnten eintreiben wollen. Als Ergänzung dazu dient das offenbar ebenfalls gehobene Paar am rechten unteren Bildrand. Wie eine narrative Repoussoirfigur führt der Herr die Dame und gleichsam auch die Betrachtenden in das Bildgeschehen ein. Dabei handelt es sich um einen Ritter des Kannenordens, der diese unterrichtende Funktion auch auf weiteren Blättern des Hausbuchs ausführt. In einem ständespezifischen Kommentar erläutert der Ritter mit der Gerte die brutale Streiterei offenbar als typische Handlungsweise dieser unteren sozialen Schicht.
Es ist für das umfassende Bildgedächtnis des Index typisch, dass sich in der gleichen Kategorie ein 400 Jahre später entstandenes Bild finden lässt, in dem dieselbe Geste einen deutlichen Widerhall als Pathosformel erfahren hat. Gemeint ist ein Ölgemälde des Mechernicher Bleibergwerks (1854) von Johann Josef Leyendecker, dessen Reproduktion einem Ausstellungskatalog über die Geschichte Preußens entnommen wurde. Hier erfüllt kein adeliger Ritter mehr die Funktion des abseitsstehenden Erklärers, sondern der von den mittlerweile proletarisierten Arbeitern mit Spottnamen wie »Kohlekönig« oder »Schlotbaron« bedachte Bergwerksunternehmer selbst. Am Rande der Grube steht er mit seinen Geschäftspartnern und erläutert das Geschehen im Tagebau, das der englische Dichter William Wordsworth in seinem Poem An Evening Walk (1793) treffend mit einem fleißigen Bienenstock gleichsetzte.
Anhand dieses epochenübergreifenden Bildvergleichs wird deutlich, wie das Bürgertum im Zuge der Industrialisierung den alten Adel in seiner herrschaftlichen Rolle ablöste. Im Hausbuch führt noch eine Straße direkt zu der prächtigen Burg im Hintergrund. Sie veranschaulicht die Verbindung von hier in schwerer Arbeit geschöpftem, dort in Prächtigkeit resultierendem Reichtum. Martin Warnke hat in seinem Buch über Politische Landschaft (München u. Wien 1992) eine unvergleichlich scharfe Analyse der Kalenderblätter im Stundenbuch des Herzogs von Berry geliefert. So wie dort die Landarbeit, erscheint im Wolfegger Hausbuch die Bergarbeit »als das selbstverständliche Attribut der Burg« (S. 53). In Mechernich hat schließlich die Zeche im Hintergrund den kompositorischen Platz der Burg eingenommen. Ihr in den Himmel hineinragender Fabrikschlot gleicht einem modernen Bergfried. Der industrielle Auftraggeber des Gemäldes erkennt, wie einst der andächtige Herzog, in dem für ihn bestimmten Werk »wie alles auf sein Schloß hin berechnet, wie vernünftig alles bestellt war, wie sicher im Schutz seiner Schlösser und Burgen gearbeitet und geerntet werden konnte; von ihnen aus war Ordnung über das Land zu bringen.«
Lukas Schepers
Bilder als Akteure des Politischen / Politische Ikonographie
Neuerscheinung: Politische Emotionen in den Künsten
Mnemosyne. Schriften des internationalen Warburg-Kollegs, Band 7
herausgegeben von Philipp Ekardt, Frank Fehrenbach und Cornelia Zumbusch Januar 2021, ISBN 978-3-11-071130-1 (gebunden), ISBN 978-3-11-072538-4 (eBook), € [D] 69,95 Angst, Sorge, Empörung, Hass, Verachtung, aber auch Vertrauen, Hoffnung, Mitleid, Empathie oder Sympathie gelten als Movens sowohl…
Neuerscheinungen / Politische Emotionen / Warburg-Kolleg
Neuerscheinung: Klassenverhältnisse. Phantoms of Perception
Herausgegeben von Benjamin Fellmann und Bettina Steinbrügge. Koenig Books & Kunstverein in Hamburg, 2020
mit Beiträgen von Frank Adloff, Barton Byg, Didier Eribon, Harun Farocki, Benjamin Fellmann, Ted Fendt, Hanna Klimpe, Catherine Perret, Bettina Steinbrügge, Jean-Marie Straub und Arbeiten von Neïl Beloufa, Benedikte Bjerre, Monica Bonvicini, Antje Ehmann, Harun Farocki, Jan Peter Hammer, Thomas…
Bilder als Akteure des Politischen / Neuerscheinungen
Neuerscheinung: Memorial Landscapes. World Images East and West
Mnemosyne. Schriften des internationalen Warburg-Kollegs, Band 6
herausgegeben von Uwe Fleckner, Yih-Fen Hua und Shai-Shu Tzeng Dezember 2020, ISBN 978-3-11-065646-6, € [D] 69,95. Englisch Als lebensweltliche Tatsache sowie als Gegenstand künstlerischer Gestaltung ist Landschaft eine zentrale Kategorie menschlicher Erfahrung. Politische, soziale,…
Neuerscheinungen / Warburg-Kolleg
Neuerscheinung: Herrscherbild und Fürstenspiegel. Eine ikonische Politologie
Band 25 der Studien aus dem Warburg-Haus
von Johannes von Müller Juli 2020, ISBN 978-3-11-068048-5 (gebunden), € [D] 69,95 Das Herrscherbild des Mittelalters ist nicht bloß Quelle politischer Geschichte, es zählt zu ihren Akteuren. Dies aufzuzeigen, werden Hauptwerke der politischen Bildgeschichte wie z. B. das Frontispiz des…
Neuerscheinungen
Neuerscheinung: Beyond Egyptomania. Objects, Style and Agency
Band 21 der Studien aus dem Warburg-Haus
herausgegeben von Miguel John Versluys Juni 2020, ISBN 978-3-11-056425-9 (gebunden), ISBN 978-3-11-056584-3 (eBook), € [D] 68,95 The material and intellectual presence of Egypt is at the heart of Western culture, religion and art from Antiquity to the present. This volume aims to provide a long…
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Neuerscheinung
Band 14 der Vorträge aus dem Warburg-Haus
Frisch erschienen ist der vierzehnte Band der Vorträge aus dem Warburg-Haus: Er versammelt Aufsätze, deren inhaltliches Spektrum vom »Gerichtspfeiler« der Straßburger Kathedrale über Ansichten der Insel Taiwan auf Lederwandbehängen des 18. und 19. Jahrhunderts bis zum Bildeinsatz bei Donald…
Neuerscheinungen
Neuerscheinung: Balance. Figuren des Äquilibriums in den Kulturwissenschaften
Band 23 der Studien aus dem Warburg-Haus
herausgegeben von Eckart Goebel und Cornelia Zumbusch Februar 2020, ISBN 978-3-11-060382-8 (gebunden), ISBN 978-3-11-060528-0 (eBook), € [D] 79,95 Konzepte des Ausgleichens und Aufwiegens, Balancierens und Kompensierens gehören ins Basisrepertoire kultureller Reflexion. Ob prästabilierte…
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Neuerscheinung: Das verirrte Kunstwerk. Bedeutung, Funktion und Manipulation von »Bilderfahrzeugen« in der Diaspora
Band 20 der Studien aus dem Warburg-Haus
herausgegeben von Uwe Fleckner und Elena Tolstichin November 2019, Copyright 2020 ISBN 978-3-11-054463-3 (gebunden), ISBN 978-3-11-054568-5 (eBook), € [D] 69,95 Seit jeher werden Kunstwerke räumlich wie zeitlich in Kontexte verschoben, die sich von ihren vermeintlich ursprünglichen…
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Neuerscheinung: Palais de Tokyo. Kunstpolitik und Ästhetik im 20. und 21. Jahrhundert
Band 22 der Studien aus dem Warburg-Haus
von Benjamin Fellmann September 2019, ISBN 978-3-11-062373-4 (gebunden), 978-3-11-062661-2 (eBook), € [D] 69,95 Das monumentale Palais de Tokyo in Paris ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein Seismograf für die Rolle der zeitgenössischen Kunst in internationalen Perspektiven und ihren…
Neuerscheinungen
Neuerscheinung: Migrating Histories of Art. Self-Translations of a Discipline
Band 19 der Studien aus dem Warburg-Haus
herausgegeben von Maria Teresa Costa und Hans Christian Hönes Dezember 2018, ISBN 978-3-11-048587-5, Euro [D] 69,95 Art historians have frequently been faced with the challenge of writing for an international audience and translating their own work into a foreign language – whether forced by…
Neuerscheinungen
Neuerscheinung: Aby Warburg: Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika
Band III.2 der Gesammelten Schriften - Studienausgabe, herausgegeben von Uwe Fleckner
Soeben ist als Band III.2 der Studienausgabe der Gesammelten Schriften Aby Warburgs der von Uwe Fleckner herausgegebene Band »Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika« mit Warburgs Vorträgen und Fotografien erschienen. Der Hamburger Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg brach…
Aby Warburg / Neuerscheinungen
Neuerscheinung DVD »Rather Die Than Die« von Natacha Nisic
Ein Film der Pariser Künstlerin über Aby Warburg und den I. Weltkrieg, der zum Teil im Warburg-Haus gedreht wurde
Für ihren jüngsten Film »Plutôt mourir que mourir« / »Rather Die Than Die« (Eher Sterben als Sterben), eine Auftragsarbeit des französischen Kulturministerium unter Federführung des Centre national des arts plastiques aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums des Endes des I. Weltkrieges…
Neuerscheinungen / Politische Emotionen
Idols and Museum Pieces. The Nature of Sculpture, its Historiography and Exhibition History 1640-1880
Band 17 der Studien aus dem Warburg-Haus
herausgegeben von Caroline van Eck Mai 2017, ISBN 978-3-11-040691-7, Euro [D] 49,95 Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums 1764 gilt als Ausgangspunkt der modernen wissenschaftlichen Erforschung von Skulptur. Er zeichnet darin eine fomalistische und profane Geschichte, die die Staute als…
Neuerscheinungen
Neuerscheinung: Magische Bilder
Mnemosyne. Schriften des internationalen Warburg-Kollegs, Band 5
„And if you were to ask me / After all that we’ve been through / Still believe in magic? / Yes, I do.“ Diese Zeilen aus „Magic“ von Coldplay stellen Uwe Fleckner und Iris Wenderholm ihrem einleitenden Aufsatz „Magie und Metapher. Wirkmächtige Bilder in…
Neuerscheinungen / Warburg-Kolleg
Neuerscheinung
Band 13 der Vorträge aus dem Warburg-Haus
Soeben ist Band 13 der Vorträge aus dem Warburg-Haus erschienen mit Themen von Caesar über E.T.A. Hoffmann bis Franz Marc, von „Diskurs und Handlungsrahmen“ über „Darstellen als Handlungsform“ bis zu „Folgen des Kreativitätsdispositivs“. Wir wünschen anregende…
Neuerscheinungen
Neuerscheinung: The Afterlife of the K.B.W.
Band 12 der Vorträge aus dem Warburg-Haus
Ende 1933 verließ die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg Hamburg. Der Dampfer Hermia brachte Bücher, Notizen, sogar Mobiliar aus der Heilwigstraße in Hamburg nach London. Der Band versammelt Aufsätze zur Emigration der K.B.W. und ihrer Entwicklung als Warburg Institute in London.…
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