Tagebuch

Bildkarte des Monats: Juli
Fundstücke aus dem Digitalisierungsprojekt »Bildindex zur Politischen Ikonographie«
Bismarck atmet
Über die Lebendigkeit politischer Bilder
Im Gegensatz zur metaphorischen Bedeutung des auf Bernhard von Chartres zurückgehenden Spruches knien die Greenpeace-Aktivisten im wahrsten Sinne des Wortes wie »Zwerge auf den Schultern eines Riesen«. Doch sie dürften den ehemaligen Reichskanzler Otto von Bismarck wohl kaum als Vor- und Wegbereiter ihres eigenen Denkens verstehen. In gewisser Weise trifft der Spruch dennoch zu. Schließlich nutzen sie den Eisernen Kanzler, wie die Bildunterschrift des am 28. November 2002 in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikels verrät, »als Demonstrationsobjekt«, um »den Einbau von Rußfiltern in Dieselfahrzeuge zu fordern«. Auf Bismarcks Schultern wird die eigene politische Aussage sichtbar. Aus dieser aktivistischen Aneignung erklärt sich, wieso gerade dieses Bild aus dem unüberschaubaren Strom tagesaktueller Bilder herausgehoben und für die Nachwelt unter dem Schlagwort »Umgang mit Denkmal« (100/20) in den Bildindex zur Politischen Ikonographie eingerückt wurde. Als Objekte im öffentlichen Raum sind Denkmäler in der Regel statische Gebilde, die nur in Ausnahmesituationen der Veränderung anheimfallen. Besonders in und nach Revolutionen ist zu beobachten, wie Oppositionelle die Denkmäler unliebsam gewordener Herrscher stürzen. Obwohl diese offensichtlich aus unbelebtem Material bestehen, wird die bildhafte Verknüpfung zur wahrhaftig lebenden Person mitunter so ernst genommen, dass die Statuen selbst wie lebendige Wesen be- oder gar misshandelt werden. Dieser Mechanismus im Umgang mit einem Denkmal kommt auch auf der hier gezeigten Fotografie zum Einsatz.
Eine Atemschutzmaske dient dem Schutz der Gesundheit und damit des Lebens. Ihre Anbringung haucht dem 625 Tonnen schweren Granit-Golem gewissermaßen Atem ein. Der steinerne Koloss wird animiert, um dessen so gewonnenes Leben als schützenswert zu markieren. Anders jedoch als beim Denkmalsturz ist die ehrende Funktion des Monuments hier nicht vollkommen obsolet geworden. Sie wird lediglich für den im Bild verewigten Moment zweckentfremdet. Denn der bildhaft ausgedrückte Aufruf zum Schutz der Gesundheit beschränkt sich nicht explizit auf die Persönlichkeit Bismarcks, sondern soll über ihn als Stellvertreter hinaus allgemeingültig geltend gemacht werden. Seine ästhetische Kraft richtet sich nicht mehr in herrschaftsbewahrender Absicht an eine überhistorische diffuse Öffentlichkeit, sondern wird zielgerichtet als politische Forderung der Gegenwart kanalisiert. Dass sich die Aktivisten gerade dieses Denkmal ausgesucht haben, obwohl sie in keiner politischen Verbindung zu Bismarck stehen, verrät viel über ihre Strategie, die bekanntlich auf größtmögliche Öffentlichkeit abzielt. Bereits das Verhältnis zwischen den beiden Aktivisten und dem Kopf verdeutlicht die schiere Größe des Monuments. Mit insgesamt 34,3 Metern Höhe ist es das größte Bismarck-Denkmal der Welt. Hinzu kommt der prominente Standort am Schnittpunkt von Millerntorplatz und Reeperbahn in kolonialistisch motivierter Sichtachse zum Hamburger Hafen. Größe und Standort sind sachliche Gründe für die Instrumentalisierung des Denkmals trotz aller politischer Differenzen zum Eisernen Kanzler. Nicht zuletzt die zahlreichen, sich wie Efeu um das Denkmal rankenden Streitfragen prädestinierten es zum »Demonstrationsobjekt«, also zum Objekt, an dem eine politische Botschaft veranschaulicht werden soll.
Bereits seit seiner Entstehung rückte das 1906 enthüllte Denkmal kontrovers ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, das für die Dauer der Aktion auch auf die Belange der Greenpeace-Aktivisten abstrahlte. Der letztlich realisierte Entwurf Hugo Lederers und Johann Emil Schaudts geriet bereits während der öffentlichen Ausschreibung in die Kritik. Seine ritterliche Ikonographie fällt klar in die Traditionslinie der Rolandstatuen, die seit dem Mittelalter als Zeichen bürgerlicher Freiheit aufgestellt wurden. Für die liberalere Fraktion passte dies ideal zum Selbstverständnis der Freien Hansestadt. Hartgesottene Nationalisten hingegen problematisierten den Ursprung der Rolandsfigur aus dem französischen Heldenepos im Kontext der sogenannten »Erbfeindschaft« zwischen Deutschland und Frankreich. Obwohl Bismarck 1871 siegreich aus dem Deutsch-Französischen Krieg hervorgegangen sei, werde er in dem Entwurf als französischer Vasall diffamiert, so das oppositionelle Verdikt. Auch Aby Warburg schaltete sich in diese Debatten ein. Als kaisertreuer Nationalliberaler begrüßte er durchaus den heute befremdlich anmutenden Symbolcharakter des Denkmals, doch fokussierten sich seine Argumente hauptsächlich auf Formfragen moderner Denkmalpolitik um 1900. Claudia Wedepohl hat in ihrem Aufsatz Walpurgisnacht auf dem Stintfang. Aby Warburg kunst-politisch (in: Das Bismarck-Denkmal in Hamburg 1906-2006. Beiträge zum Symposium »Distanz halten. 100 Jahre Hamburger Bismarckdenkmal«, Heide 2008, S. 60-68) Warburgs Überlegungen zum Bismarck-Denkmal aufgearbeitet. So stellte er sich öffentlich gegen die damals vorherrschenden barockisierenden »Reizmittel des Varieté-Theaters und der Zirkus-Pantomime«, womit er das »aufdringliche Gewimmel von Thieren und geflügelten Geniussen« meinte, die im 19. Jahrhundert solche Denkmäler oft genug pathetisch überfrachteten; in der schnörkellosen Formenschlichtheit sah er durch »Distanz haltende, objektive Vertiefung« den Zugang zum »Mann im Kunstwerk« gewährleistet (zitiert nach ibid., S. 61 f.). Die Kontroversen um das Denkmal ebbten nicht ab. Es sollte 1963 abgerissen und durch einen Aussichtsturm ersetzt werden, was jedoch durch den drei Jahre zuvor erfolgten Eintrag in die Denkmalschutzliste verhindert werden konnte. Bis in die jüngste Gegenwart dient das Monument als Magnet für rechtsradikale und geschichtsrevisionistische Gruppierungen. Vor diesem polarisierenden Hintergrund war es den Greenpeace-Aktivisten also möglich, das Potenzial des steinernen Giganten öffentlichkeitswirksam auszuschöpfen.
Doch zurück zum eigentlichen Bild. Den durch die Covid-19-Pandemie geprägten Betrachtenden erscheint die Aktion heute in einem völlig anderen Licht als intendiert. Denken wir uns das Erscheinungsdatum sowie die Textbeigaben weg, dann würde man meinen, das Bild stamme aus der jüngsten Vergangenheit. Der usurpierende Umgang mit dem Denkmal könnte exakt gleicher Art sein, die getroffene Aussage wäre jedoch eine wesentlich unterschiedene. Der verlebendigte Granitkopf Bismarcks würde immer noch als »Demonstrationsobjekt« für den Schutz des Lebens herhalten. Sein animistisch suggerierter Atem müsste jedoch nicht vor Rußpartikeln, sondern vielmehr vor Viren geschützt werden. Direkter Adressat der zielgerichtet umwidmenden Mahnung wäre nicht mehr direkt die Politik, auf die durch zunehmende Öffentlichkeit Druck aufgebaut werden soll, sondern die euphemistisch als »Maskenmuffel« bezeichneten Verschwörungstheoretiker und Gesundheitsgefährder. In diesem Fall hätten sich die Aktivisten sicherlich darum bemüht, auch die Nase Bismarcks ordnungsgemäß zu bedecken. Vielleicht ließe sich sogar der eine oder andere Reichsbürger von dem Appell (»Seht her, selbst Bismarck würde Maske tragen«) überzeugen.
Nicht nur werden tote Denkmäler wie lebendig behandelt, sondern darüber hinaus lässt sich mit Blick auf diese Bedeutungsverschiebung sagen, dass einmal in die Welt gesetzte Bilder – seien sie Denkmäler oder Pressefotografien – als verfügbare Gegenstände in Korrespondenz mit historischen Gegebenheiten ein gewisses Eigenleben entwickeln. 1981 veröffentlichte Der Spiegel auf seinem Titelblatt eine Collage mit dem Konterfei Helmut Schmidts auf der Bismarckfigur, um damit Schmidts Festhalten am NATO-Doppelbeschluss zu kommentieren. Am Tag der deutschen Wiedervereinigung wurde dem Monument eine Maske mit dem Konterfei Helmut Kohls übergestülpt. Und 2020 schlug der Hamburger Ulrich Hentschel in einem Interview mit dem NDR vor, den Kopf Bismarcks dauerhaft zu demontieren, um die Wucht des Denkmals zu brechen (»Kopf ab!« – Diskussion über Hamburger Bismarck-Denkmal, ndr.de, 2.7.2020, online hier). Schließlich soll das Monument demnächst im Rahmen mehrerer Workshops neu kontextualisiert werden. Mit jedem Eingriff erfährt es einen Bedeutungszuwachs. Die bei temporären Aktionen entstandenen Bilder, denen laut Martin Warnke eine »aktive Rolle im politischen Raum« zugetraut werden kann (Bildindex zur Politischen Ikonographie, Broschüre, Hamburg 1993, S. 9), entwickeln analog zum Denkmal ihr dauerhaftes Eigenleben und unterliegen dadurch ebenso einem historischen Wandel: Was mit dem Bismarck-Denkmal geschieht, die bildlich dokumentierte Verschiebung möglicher Bedeutungen, wird durch die Geschichte geleistet, die hier als mächtigste Aktivistin auftritt.
Lukas Schepers
Bilder als Akteure des Politischen / Politische Ikonographie

Online: Vortrag von Elisabeth Bronfen
Hermiones Rückkehr - Das Nachleben einer Pathosgeste
Vortrag der Trägerin des Wissenschaftspreises der Aby-Warburg-Stiftung 2017 Elisabeth Bronfen, Ordinaria am Englischen Seminar der Universität Zürich und Global Distinguished Professor an der New York University, anlässlich der Verleihung der Martin Warnke-Medaille am 19.12.2017 im Warburg-Haus…
Latenz in den Künsten / Martin Warnke-Medaille / Publikationen / Wissenschaftspreis

Buchvorstellung: Stimmungs-Atlas »B wie Blickfänger«, ein Buch über das Bild »Betty« von Gerhard Richter
Podiumsdiskussion der Autoren Insa Härtel und Karl-Josef Pazzini mit Nora Sdun (Textem Verlag) und Benjamin Fellmann (Warburg-Haus)
Am Montag, den 18. Dezember 2017 fand als Kooperationsveranstaltung des Warburg-Hauses mit dem Hamburger Textem-Verlag im Rahmen des Jahresschwerpunktes „Latenz in den Künsten“ die Vorstellung des Buches Stimmungs-Atlas »B wie Blickfänger« statt. Von 20.00 Uhr bis 21.30 Uhr…
Latenz in den Künsten

Verleihung der Martin Warnke-Medaille an Elisabeth Bronfen
Anschließender Vortrag der Preisträgerin: "Hermiones Rückkehr - Das Nachleben einer Pathosgeste"
Prof. Dr. Elisabeth Bronfen wurde am Dienstag, den 19. Dezember 2017, 19 Uhr, im Warburg-Haus feierlich die Martin Warnke-Medaille verliehen. Sie ist Ordinaria am Englischen Seminar der Universität Zürich und seit 2007 zugleich Global Distinguished Professor an der New York University. Ihre…
Latenz in den Künsten / Martin Warnke-Medaille / Wissenschaftspreis

Online: Vortrag von Anselm Haverkamp
Saussure, der Text, die Bilder
Vortrag von Anselm Haverkamp, Professor of English Emeritus der New York University, New York, Professor Emeritus der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder und Honorarprofessor am Lehrstuhl für Philosophie I der Ludwig-Maximilians-Universität München, am 21.11.2017 im Rahmen der…
Latenz in den Künsten / Publikationen

Seminar »Latenzen im Museum – Bilder im Depot und Bilder als Depot« in der Hamburger Kunsthalle
Eine Kooperation im Rahmen des Schwerpunktthemas "Latenz in den Künsten"
Mit Sandra Pisot, Leitung Sammlung Alte Meister, Hamburger Kunsthalle, Benjamin Fellmann, Warburg‐Haus, Elena Tolstichin, Warburg‐Haus / Forschungsprojekt Bilderfahrzeuge, im Depot Alte Meister und den Reformationskabinetten. Eine Kooperationsveranstaltung der Hamburger Kunsthalle und des…
Latenz in den Künsten

Online: Vortrag von Martin von Koppenfels
›Dream on, dream on, of bloody deeds and death‹: Alptraum und Geschichte in Shakespeares ›Richard III‹
Vortrag von Martin von Koppenfels, Professor am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München, am 24.10.2017 im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema Latenz in den Künsten im Warburg-Haus. Die Aufzeichnung erfolgte durch das…
Latenz in den Künsten / Publikationen

Online: Vortrag von Christopher Wood
3 Frauen
Vortrag von Christopher Wood, Professor und Chair des Department of German der New York University, am 4.7.2017 im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema Latenz in den Künsten im Warburg-Haus. Die Aufzeichnung erfolgte durch das Team des eLearning-Büros der Fakultät für…
Latenz in den Künsten / Publikationen

Die Künste als Archive eines Ausgleichswissens
Cornelia Zumbusch zum Nachdenken über Gleichgewicht im Warburg-Haus anlässlich der Tagung Latente Spannungen - Figuren des Äquilibriums
Das Deckenlicht im Lesesaal der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg ist nicht rund, sondern oval. Durch diese Glaskonstruktion wird der elliptische Raum augenfällig. Die Ellipse war für Warburg als Denkfigur zentral, und das aus mehreren Gründen. In Warburgs Forschungen zur Geschichte…
Latenz in den Künsten

Das Äquilibrium als Modell und mögliche Daseinsmetapher
Eckart Goebel zum interdisziplinären Forschungsfeld anlässlich der Tagung Latente Spannungen - Figuren des Äquilibriums
Unterschiedliche Modelle des Ausgleichens und Balancierens, aber auch die Artikulation einer tiefsitzenden Angst vor dem Verlust des Gleichgewichts von der Antike bis in die Gegenwart zählen zu den Basiselementen kultureller Erfahrung und deren Reflexion. Das alte, von der thebanischen Sphinx dem…
Latenz in den Künsten

Thementag Warten/Latenz in der Hamburger Kunsthalle und im Warburg-Haus
Dialogführung und Vorträge im Rahmen des Schwerpunktthemas "Latenz in den Künsten"
Eine Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle zur Ausstellung »Warten. Zwischen Macht und Möglichkeit« WARTEN / LATENZ: Die Veränderung unserer Lebenswelten schreitet mit hohem Tempo voran. Das aktuelle Schwerpunktthema des Warburg-Hauses fragt danach, was mit Vergangenem passiert. Warburgs…
Latenz in den Künsten

Online: Vortrag von Niklaus Largier, Berkeley
Latente Beziehungen: Figur, Plastizität und ›Nachleben‹ bei Warburg und Auerbach
Eine Veranstaltung im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema Latenz in den Künsten, 22.5.2017. Die Aufzeichnung erfolgte durch das Team des eLearning-Büros der Fakultät für Geisteswissenschaften und steht auf der UHH-eigenen Plattform Lecture2Go bereit.…
Latenz in den Künsten / Publikationen

Online: Vortrag von Cornelia Wild, München
Flüchtige Form. Passantinnen bei Baudelaire, Freud und Warburg
Eine Veranstaltung im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema Latenz in den Künsten, 25.4.2017. Die Aufzeichnung erfolgte durch das Team des eLearning-Büros der Fakultät für Geisteswissenschaften und steht auf der UHH-eigenen Plattform Lecture2Go bereit.…
Latenz in den Künsten / Publikationen

Künstlergespräch mit Ursula Schulz-Dornburg
Im Rahmen des Schwerpunktthemas "Latenz in den Künsten"
Eine Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle zur Ausstellung „Warten. Zwischen Macht und Möglichkeit“ Das was war und das was kommt, verdichtet sich im Nicht-Ort, im Bild des Wartens an der Haltestelle. Latent und doch spürbar, ruhig und klar, surreal und beunruhigend. Ein Gespräch…
Latenz in den Künsten

Latenz in den Künsten
Schwerpunktthema 2017
Unsere modernen Lebenswelten verändern sich rasant – und doch ist das, was überholt und abgelegt scheint, nicht einfach aus der Welt. Was also passiert mit dem, was vorher war? Wie gerät etwas in Vergessenheit, wie wirkt es unterschwellig weiter und nach welchen Gesetzen taucht es wieder auf?…
Latenz in den Künsten