Tagebuch


Bildkarte des Monats: August
Fundstücke aus dem Digitalisierungsprojekt »Bildindex zur Politischen Ikonographie«
Gimme Shelter
Henry Moore und die Aktualität des Krieges
»War, children, it’s just a shot away.«
The Rolling Stones: Gimme Shelter, 1969
Im Bildindex zur Politischen Ikonographie findet sich unter dem Schlagwort »Schlaf« innerhalb der Kategorie der »Geste« (200/215) eine Bildkarte, die auch in die Rubrik »Schutz« hätte fallen können. Es handelt sich um eine beschriftete Postkarte aus der Tate Gallery in London, die am 8. Juli 1951 nach Hamburg gesendet wurde. Die auf ihr mitgeteilten Urlaubsgrüße sind hier nicht von Belang, allerdings weist das vor 71 Jahren verschickte Motiv einen Aktualitätsbezug auf, der uns auch heute noch globalpolitisch betrifft.
Das mit Kohle und schwarzer Tinte gezeichnete und mit Aquarell und Gouache kolorierte Bild in den Maßen 48,3 auf 43,2 Zentimeter wurde 1941 von Henry Moore angefertigt. Es zeigt ein Etagenbett, in dem übereinander drei Personen liegen. Links hängt eine mit gelber Kreide gemalte anthropomorphe Textilie, vermutlich eine Decke oder ein Kleidungstück. Vor dem Bett liegen drei weitere, von einer langen farbigen Stoffbahn bedeckte Personen, die vom unteren Bildrand überschnitten in den Betrachterraum ragen. Die mumienartig verhüllten Figuren des Bildes sind als organische skulpturale Formen angelegt und bilden einen starken Kontrast zur strengen Geometrie des Bettgestells.
Der gitterähnliche Aufbau der Zeichnung mit seinen Senkrechten und Waagerechten verweist auf die räumliche Restriktion in Ausnahmezuständen wie der Flucht vor Krieg und Naturkatastrophen und zeigt Menschen, die in beengten Räumen Schutz suchen, wobei sie ihre eigene Intimität preisgeben. Das wesentliche Bedürfnis nach Obdach und Sicherheit wird durch diese Zeichnung aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs ins Gedächtnis gerufen. Der Blitzkrieg (»The Blitz«), die Angriffe der deutschen Luftwaffe auf Großbritannien vom 7. September 1940 bis 11. Mai 1941, trieb durchschnittlich etwa 100.000 Menschen pro Nacht in unterirdische Räume (vgl. The Drawings of Henry Moore (hrsg. v. Alan G. Wilkinson), Ausstellungskatalog, Tate Gallery, London / Art Gallery of Ontario, Toronto, 1977-1978, S. 29).
Moore schuf in dieser Situation beispielsweise in Londoner U-Bahnhöfen zahlreiche Zeichnungen, die erstmalig nicht als Ideenskizzen für seine Skulpturen intendiert waren, sondern einen ganz eigenständigen Charakter aufweisen (vgl. Robert Melville: Henry Moore. Sculpture and Drawings 1921-1969, London 1970, S. 127). Die Zeichnungen füllten mehrere Skizzenbücher, die teilweise aufgelöst und vom War Artists Advisory Commitee erworben wurden und heute in verschiedenen britischen Museen aufbewahrt werden.
Obwohl das Bildmotiv eine reale Situation wiedergibt, hat Moore seine sogenannten shelter drawings nicht vor Ort geschaffen. Der Arbeitsprozess war vielmehr von intensiver Beobachtung bestimmt. Da sein Atelier im Londoner Stadtteil Hampstead im Oktober 1940 selbst von einem Bombenangriff betroffen war, arbeitete Moore nach einigen Nächten des Observierens in seiner Wohnung aus dem Gedächtnis heraus an den Zeichnungen (vgl. David Mitchinson / Julian Andrews (Hrsg.): Celebrating Moore. Works from the Collection of The Henry Moore Foundation, London 1998, S. 186). Der Künstler beschrieb diesen Schaffensprozess als notwendigen respektvollen Umgang mit einer solch elenden Situation, da eine direkte zeichnerische Aufnahme der Motive vor Ort als taktloses Eindringen in fremde Privatsphären verstanden worden wäre (vgl. ibid., S. 185). Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Moore als Künstler in seiner Zeit medial sehr präsent war, was eine gewisse Selbstinszenierung voraussetzt. Auch der nachgestellte Schaffensprozess der shelter drawings ist in einer Filmdokumentation von Jill Craigie aus dem Jahr 1944 zu sehen. Die daraus resultierende öffentliche Aufmerksamkeit trug vermutlich stark zur aufsteigenden Popularität des Künstlers bei, sein endgültiger internationaler Durchbruch ist dementsprechend in die Zeit dieser Kriegszeichnungen zu datieren.
In der Literatur herrschen unterschiedliche Auffassungen darüber vor, ob die Skizzen aus eigener Motivation des Künstlers entstanden sind oder Auftragsarbeiten waren, die Moore als war artist ausführte: »[…] die Bunkerzeichnungen wurden als Auftrag ausgeführt und hatten einen klaren Zweck – sie sollten die Reaktion der Londoner Bevölkerung auf die nächtlichen Bombardements der deutschen Luftwaffe darstellen« (Herbert Read: Henry Moore, Zürich 1967, S. 142). Allerdings wird auch behauptet, Moore habe seine eigenen bildhauerischen Werke, vor allem seine Reclining Figures, beim Anblick der verhüllt daliegenden Menschen in den Tunneln der U-Bahnstationen und leeren Lagerhäusern wiedererkannt und sich emotional mit der Atmosphäre im Untergrund identifiziert, nachdem er den Auftrag als Kriegskünstler ablehnte: »It was as if he himself wanted to experience something of the tension and exhaustion expressed in the poses seen« (The Drawings of Henry Moore 1977-1978, S. 32).
Was auch immer der Beweggrund des Künstlers gewesen ist, bei seinen shelter drawings handelt es sich um eine bedeutende künstlerische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg. Moore konvertierte die bis dahin vorherrschende Kriegsikonografie: Anstelle von Schreckenstaten entwarf er ein humanistisches und »überzeitliches« Zeugnis des Krieges (Erwin Petermann: Vorwort, in: Die Shelterzeichnungen des Henry Moore, Ausstellungskatalog, Staatsgalerie Stuttgart 1967, o. S.). Hanns Theodor Flemming betont: »Moore geht es nicht um heldische Kampf- und Schlachtszenen wie in früheren Zeiten, sondern um die knappe Schilderung der unter den Bombenangriffen leidenden Kreatur, des von Angst in dunkle Keller und stickigen Schlaf gehetzten Volkes« (Hanns Theodor Flemming: Henry Moore. Katakomben. 45 Zeichnungen, München 1956, S. 16). Und auch der menschliche Aspekt wird in der Literatur wiederholt herausgestellt: »Moore said later that ›it humanized everything I had been doing. I knew at the time that I was sketching represented an artistic turning point for me…‹ Out of this humanization came warmer and less abstract works« (Anthony Arblaster: Rezension zu: Peter Stansky / William Abrahams: London’s Burning. Life, Death and Art in the Second World War, in: The Political Quarterly 66-3/1995, S. 227).
Dass die eine konkrete Situation dokumentierenden Bilder nicht nur von Moores Zeitgenossen verstanden werden konnten, liegt vor allem an ihren rigorosen asketischen Darstellungen, die ohne spezifische Zusammenhänge auskommen, anhand derer die Merkmale eines konkreten Ortes oder individueller Personen wiederzuerkennen wären. Der Raum, der bloß durch gezeichnete Bezüge von Menschen und Dingen definiert wird, die verhüllten Körper im Schlaf und die nur in Grundzügen skizzierten menschlichen Gesichter werden allerdings durch die subtil differenzierende technische Ausführung der vielfältigen Materialien ausdrucksvoll gesteigert. Erst durch den außergewöhnlichen Reichtum der kombinierten Texturen von Fettkreide, Aquarell, Tusche und Lavierung erlangt das im Bildindex zur Politischen Ikonographie verwendete Bild eine räumliche, aber auch gedankliche Tiefe, die den Motiven eine eindringliche Körperlichkeit und so den Blättern überhaupt erst ihre inhaltliche Substanz verleiht (vgl. Flemming 1956, S. 15).
Auf diese Weise entstehen beim Betrachten der shelter drawings von Henry Moore Verknüpfungen, die uns auch heute noch schmerzlich berühren und uns solche Bilder in Erinnerung rufen, die wir in den letzten Monaten vielfach sehen mussten. Über einem von Andrea Jeska verfassten und am 2. März 2022 in der Wochenzeitung Die Zeit erschienenen Artikel Wie lange hält Kiew durch? ist beispielsweise eine Fotografie von Chris McGrath abgedruckt, die eine Mutter mit ihrem Baby im Luftschutzkeller eines Kinderkrankenhauses in Kiew zeigt. Während die Skulpturen von Mutter und Kind als typische Motive des britischen Künstlers weltweit bekannt sind, erfahren die für seine künstlerische Laufbahn so prägenden shelter drawings bislang weit weniger Beachtung. Doch durch die Darstellung solch prekärer Situationen, wie sie Moore in seinen Blättern atmosphärisch dicht festgehalten hat, erfahren wir als Betrachter über den historischen Anlass hinaus die bedrohliche Aktualität des Krieges.
Ramin Massoum
[VERGLEICHSABBILDUNG]
Chris McGrath: Eine Mutter hält ihr Baby im Luftschutzkeller eines Kinderkrankenhauses in Kiew, Februar 2022, Fotografie, © Getty Images
Bilder als Akteure des Politischen II / Politische Ikonographie

Online: Vortrag von Elisabeth Bronfen
Hermiones Rückkehr - Das Nachleben einer Pathosgeste
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Buchvorstellung: Stimmungs-Atlas »B wie Blickfänger«, ein Buch über das Bild »Betty« von Gerhard Richter
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Latenz in den Künsten

Verleihung der Martin Warnke-Medaille an Elisabeth Bronfen
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Prof. Dr. Elisabeth Bronfen wurde am Dienstag, den 19. Dezember 2017, 19 Uhr, im Warburg-Haus feierlich die Martin Warnke-Medaille verliehen. Sie ist Ordinaria am Englischen Seminar der Universität Zürich und seit 2007 zugleich Global Distinguished Professor an der New York University. Ihre…
Latenz in den Künsten / Martin Warnke-Medaille / Wissenschaftspreis

Online: Vortrag von Anselm Haverkamp
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Latenz in den Künsten / Publikationen

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Mit Sandra Pisot, Leitung Sammlung Alte Meister, Hamburger Kunsthalle, Benjamin Fellmann, Warburg‐Haus, Elena Tolstichin, Warburg‐Haus / Forschungsprojekt Bilderfahrzeuge, im Depot Alte Meister und den Reformationskabinetten. Eine Kooperationsveranstaltung der Hamburger Kunsthalle und des…
Latenz in den Künsten

Online: Vortrag von Martin von Koppenfels
›Dream on, dream on, of bloody deeds and death‹: Alptraum und Geschichte in Shakespeares ›Richard III‹
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Latenz in den Künsten / Publikationen

Online: Vortrag von Christopher Wood
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Latenz in den Künsten / Publikationen

Die Künste als Archive eines Ausgleichswissens
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Das Deckenlicht im Lesesaal der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg ist nicht rund, sondern oval. Durch diese Glaskonstruktion wird der elliptische Raum augenfällig. Die Ellipse war für Warburg als Denkfigur zentral, und das aus mehreren Gründen. In Warburgs Forschungen zur Geschichte…
Latenz in den Künsten

Das Äquilibrium als Modell und mögliche Daseinsmetapher
Eckart Goebel zum interdisziplinären Forschungsfeld anlässlich der Tagung Latente Spannungen - Figuren des Äquilibriums
Unterschiedliche Modelle des Ausgleichens und Balancierens, aber auch die Artikulation einer tiefsitzenden Angst vor dem Verlust des Gleichgewichts von der Antike bis in die Gegenwart zählen zu den Basiselementen kultureller Erfahrung und deren Reflexion. Das alte, von der thebanischen Sphinx dem…
Latenz in den Künsten

Thementag Warten/Latenz in der Hamburger Kunsthalle und im Warburg-Haus
Dialogführung und Vorträge im Rahmen des Schwerpunktthemas "Latenz in den Künsten"
Eine Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle zur Ausstellung »Warten. Zwischen Macht und Möglichkeit« WARTEN / LATENZ: Die Veränderung unserer Lebenswelten schreitet mit hohem Tempo voran. Das aktuelle Schwerpunktthema des Warburg-Hauses fragt danach, was mit Vergangenem passiert. Warburgs…
Latenz in den Künsten

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Latente Beziehungen: Figur, Plastizität und ›Nachleben‹ bei Warburg und Auerbach
Eine Veranstaltung im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema Latenz in den Künsten, 22.5.2017. Die Aufzeichnung erfolgte durch das Team des eLearning-Büros der Fakultät für Geisteswissenschaften und steht auf der UHH-eigenen Plattform Lecture2Go bereit.…
Latenz in den Künsten / Publikationen

Online: Vortrag von Cornelia Wild, München
Flüchtige Form. Passantinnen bei Baudelaire, Freud und Warburg
Eine Veranstaltung im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema Latenz in den Künsten, 25.4.2017. Die Aufzeichnung erfolgte durch das Team des eLearning-Büros der Fakultät für Geisteswissenschaften und steht auf der UHH-eigenen Plattform Lecture2Go bereit.…
Latenz in den Künsten / Publikationen

Künstlergespräch mit Ursula Schulz-Dornburg
Im Rahmen des Schwerpunktthemas "Latenz in den Künsten"
Eine Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle zur Ausstellung „Warten. Zwischen Macht und Möglichkeit“ Das was war und das was kommt, verdichtet sich im Nicht-Ort, im Bild des Wartens an der Haltestelle. Latent und doch spürbar, ruhig und klar, surreal und beunruhigend. Ein Gespräch…
Latenz in den Künsten

Latenz in den Künsten
Schwerpunktthema 2017
Unsere modernen Lebenswelten verändern sich rasant – und doch ist das, was überholt und abgelegt scheint, nicht einfach aus der Welt. Was also passiert mit dem, was vorher war? Wie gerät etwas in Vergessenheit, wie wirkt es unterschwellig weiter und nach welchen Gesetzen taucht es wieder auf?…
Latenz in den Künsten