Tagebuch

Bildkarte des Monats: Juli
Fundstücke aus dem Digitalisierungsprojekt »Bildindex zur Politischen Ikonographie«
Die Morgenröte der Aufklärung
Bertel Thorvaldsens »Der Tag« als Allegorie des Lichts
Der dänische Künstler Bertel Thorvaldsen ist einer der berühmtesten Bildhauer des Klassizismus. Seine Übersiedlung nach Rom im März 1797 und die dortige Begegnung mit der Antike und späteren italienischen Kunstepochen veränderten sein Werk ebenso wie das vieler seiner Kollegen. Beispielhaft dafür stehen die beiden Tondi Der Tag und Die Nacht, deren Gipsmodelle Thorvaldsen im Sommer 1815 anfertigte (vgl. Friedrich Noack: Ausführliche Zeittafel zum Deutschtum in Rom, Stuttgart 1927, S. 515). Mit der vorliegenden Bildkarte wurde Der Tag in den Bildindex zur Politischen Ikonographie aufgenommen und der Kategorie »Aufklärung« unter dem Begriff »Allegorien« (45/10) zugeordnet. Von den verschiedenen Versionen des Reliefs, die in der Werkstatt des Künstlers angefertigt wurden, zeigt diese Reproduktion die Marmorversion aus dem Thorvaldsens Museum in Kopenhagen. Die zugehörige Bildkarte beschriftete Martin Warnke mit »Der Tag / (Aurora als Genius des Lichtes)«. Der Tag wird demnach durch die Lichtgöttin Aurora personifiziert, auf deren Schultern gestützt ein geflügelter Knabe schwebt, der in seiner Rechten eine brennende Fackel erhoben hat. Verschiedenen Deutungen zufolge kann der Putto – und nicht Aurora, wie auf der Karte geschehen – als Personifikation des Morgensterns oder als Genius des Lichts identifiziert werden (vgl. Gerhard Bott (Hrsg.): Bertel Thorvaldsen. Skulpturen, Modelle, Bozetti, Handzeichnungen. Gemälde aus Thorvaldsens Sammlungen, Köln 1977, S. 230; Monika Blatscheck (Hrsg.): Das Thorvaldsen-Museum, Kopenhagen 1985, S. 88; Gerhard Bott et al. (Hrsg.): Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770-1844). Der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde, Nürnberg 1991, S. 562).
Die dargestellte Frau wurde nach den Ausführungen bei Homer als »rosenfingrige« Aurora gestaltet (Illias 6, 175): Sie streut Rosenblüten über das östliche Firmament und gilt deshalb in der antiken Literatur als Personifikation der Morgenröte oder auch des Tageslichts. Als Attribute des hellen Tages schreibt Euripides ihr ein weißes Gesicht, weiße Flügel und weiße Pferde zu (Troades 848-849). Wie die Lichtgottheiten Helios oder Selene, deren Schwester sie ist, wird sie häufig in einem von Pferden gezogenen Wagen dargestellt. Thorvaldsen jedoch übernahm dieses Motiv der klassischen, auch in Karl Philipp Moritzs Götterlehre von 1791 überlieferten Ikonografie nicht. Er galt als »unintellektuell« (Bjarne Jørnæs: Der Kontur in Thorvaldsens Kunst, in: Bott et al. 1991, S. 67-74, S. 69) und ließ sich eher von Bildern als von der Lektüre kunsttheoretischer Schriften leiten.
Im Gegensatz zum Tondo Die Nacht, bei dem die Kreidezeichnung Die Nacht mit ihren Kindern Schlaf und Tod von 1795 seines Künstlerkollegen Asmus Jakob Carstens die Anregung dazu gegeben haben könnte, eine moderne Version dieser Allegorie zu schaffen, gibt es kein vergleichbares zeitgenössisches Beispiel für die Darstellung des Tages. Stattdessen hat sich Thorvaldsen am Deckenfresko Guido Renis im Palazzo Pallavicini Rospigliosi in Rom orientiert, das von Kardinal Scipione Borghese 1612 in Auftrag gegeben worden war (vgl. Bott 1977, S. 230). Hier schwebt Aurora dem im Sonnenwagen sitzenden und von jungen Frauen begleiteten Apoll voraus und streut Rosen auf die unter ihr sich im Sonnenaufgang rötende Landschaft. Mit etwas Abstand folgt ihr der geflügelte Knabe mit der brennenden Fackel. Thorvaldsen hat Aurora und den personifizierten Morgenstern aus der Gesamtkomposition herausgelöst. Auf den ersten Blick ähneln sich die Figuren bei Reni und Thorvaldsen stark, doch unterscheiden sie sich bei genauerer Betrachtung in vielen Details; so ist etwa die Haltung der Aurora im Relief weniger dynamisch und zugunsten eines ruhigeren Habitus zurückgenommen. Darüber hinaus bilden der Junge und die Göttin eine stärkere Einheit, die durch ihre körperliche Nähe von inniger Verbundenheit zeugt, ja, es scheint, als seien sie Mutter und Kind. Dies ließe sich durch eine Stelle bei Hesiod bestätigen, in der Auroras Sohn Phaethon als Verkörperung des Morgen- und Abendsterns beschrieben wird (Theogonia 986-987). Aber nicht nur der Bildinhalt, sondern auch die Gestaltungsweise des Reliefs erinnern an die Antike. Die Art, in der sich das Gewand um den Körper der Göttin schmiegt, gleicht der des »Reichen Stils« aus dem späten 5. Jahrhundert vor Christus. Ansonsten bildet das Gewand zahlreiche Falten, mit denen die weibliche Gestalt umspielt wird. Dass Aurora einen ärmellosen Peplos trägt, den man an dem unter der Brust gegürteten Überschlag erkennen kann, lässt sich wiederum mit Homer in Verbindung bringen, bei dem das Gewand als gelber Peplos beschrieben wird (Illias 8, 1).
Als Thorvaldsen nach Rom fuhr, befand sich Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden in seiner Reisetasche. Diese überreichte er dem Kunsttheoretiker Carl Ludwig Fernow in der Ewigen Stadt, womit sich für Thorvaldsen die Türen in dessen Kreise öffneten. Fernow hielt Vorlesungen zur künstlerischen Autonomie, in denen er unter anderem Kants Theorien aufgriff, und verbreitete so das aufklärerische Gedankengut unter den zumeist deutschen Künstlern (vgl. Bott et al. 1991, S. 280 u. S. 379; Ulf Dingerdissen et al. (Hrsg.): Fonti d’ispirazione. Biblioteche degli artisti tedeschi a Roma 1795-1915, Rom 2020, S. 13). Kunst sollte sich entgegen der im Barock vorherrschenden Vieldeutigkeit und dem Sinnlich-Entrücktem auf die Prinzipien der Vernunft stützen (vgl. Bott et al. 1991, S. 383). Der von Winckelmann geprägte Ausdruck der »edlen Einfalt und stillen Größe« wurde dabei zur Doktrin. Eine lineare, konturbetonende Kunst sowie die Nachahmung der Antike sollten zu idealer Wahrheit führen und das »Schöne« und »Vollkommene« hervorbringen (vgl. Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, Dresden u. Leipzig, 2. Aufl. 1756, S. 1-44). Beeinflusst von den Zeichenstilen Carstens’ und John Flaxmans übersetzte Thorvaldsen deren Linearität in seine dreidimensionale Reliefkunst.
Als Göttin, die das Licht, also die »Erleuchtung«, über die Welt bringt, wurde Aurora zu einem wichtigen Motiv der Aufklärung, sodass sie im Bildindex zur Politischen Ikonographie sogar eine eigene Unterkategorie erhielt. Dass Warnke sie hier jedoch unter der Kategorie »Allegorien« einrückte, liegt vermutlich daran, dass die Frau auf dem Relief nicht Aurora selbst verkörpert, sondern lediglich ihre Attribute trägt. Ein weiteres Motiv der Aufklärung ist die erhobene Fackel, die in Revolutionsbildern immer wieder eine erhebliche Rolle spielt. Die Bedeutung des Genius, ursprünglich im antiken Rom als Schutzgottheit oder auch als »vergöttlichte/s Persönlichkeit/Konzept mit Sitz in der Stirn« aufgefasst (Der Neue Pauly, Bd. 4, Stuttgart 1998, Sp. 915), wandelte sich in der Neuzeit zum heutigen Verständnis als Genie, also zu einer Person mit besonderen intellektuellen Fähigkeiten. Entsprechend wird dieser Knabe bei Thorvaldsen als geistiger Begleiter der Aurora dargestellt. Die verschiedenen Tageszeitenzyklen, beispielsweise von Guido Reni, Annibale Carracci, Joachim Sandrart oder Philipp Otto Runge, zeigen, dass deren Darstellungen besonders seit dem Barock beliebte Allegorien waren. Thorvaldsen fügt diesem Motiv in seinen Tondi eine neue Modernität hinzu, die von der Kunst Carstens’ vorgeprägt wurde. Das Thema, frühneuzeitlich zumeist in komplexen allegorischen Bildprogrammen verwendet, wurde auf diese Weise für private bürgerliche Dekorationen umgearbeitet. Die Tageszeiten, hier auf den Tag und die Nacht reduziert, sind dabei für jeden leicht verständlich. Ob Thorvaldsen tatsächlich aufklärerische Ansichten vermitteln wollte, kann hingegen nicht abschließend geklärt werden. Sein Œuvre zeugt von einer eher unpolitischen Kunst. Jedoch ist nicht zu vergessen, dass der Bildhauer von einem Kreis autonomer, progressiv gesonnener Künstler umgeben war und als Agnostiker selbst über einen gewissen aufgeklärten Geist verfügt haben muss.
Sanna Urban
Bilder als Akteure des Politischen II / Politische Ikonographie

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