Tagebuch

Bildkarte des Monats: Januar
Fundstücke aus dem Digitalisierungsprojekt »Bildindex zur Politischen Ikonographie«
Der Kunsthistoriker als (medialer) Augenzeuge
Martin Warnke fotografiert die Fernsehbilder vom Sturz des Saddam-Hussein-Monuments in Bagdad
Am Nachmittag des 9. April 2003 saß der Hamburger Kunsthistoriker Martin Warnke vor dem Fernseher seines Arbeitszimmers und schaute gebannt einen Live-Bericht des Senders NTV. Teils mit Studiokommentaren unterlegt, teils telefonisch begleitet von der vor Ort anwesenden Journalistin Antonia Rados, wurde ausgestrahlt, was sich zur gleichen Zeit 3.500 Kilometer weiter östlich in Bagdad zutrug: Auf dem Firdos-Platz, im Zentrum der irakischen Hauptstadt, begannen aufgebrachte Bürger, unterstützt von Soldaten der US-Armee, die mit ihren Verbündeten seit März einen Krieg gegen das Regime des vorderasiatischen Landes führte, eine weit überlebensgroße Bronzestatue Saddam Husseins zu stürzen, ein Werk des Bildhauers Khalid Ezzat, das erst ein Jahr zuvor auf hohem Sockel dort aufgestellt worden war. Warnke verfolgte das Geschehen, schaltete gelegentlich zum Konkurrenzsender ZDF um, der ebenfalls live berichtete, und griff zum Fotoapparat: Hier schlug, das wusste er, die Stunde des Kunsthistorikers, des Spezialisten für politische Ikonografie. Hatte er bereits 1973 eine bis heute lesenswerte Aufsatzsammlung zum Bildersturm vorgelegt, mit Beiträgen zu ikonoklastischen Phänomenen von der Antike bis zum Nationalsozialismus, so konnte er nun, als Zeit-, ja, dank medialer Vermittlung als Augenzeuge einem Geschehen beiwohnen, dass er bis dahin nur aus der Distanz des Historikers hatte betrachten können.
Zwanzig Minuten lang schoss Warnke Foto um Foto von den wechselnden Szenen, die auf dem Bildschirm zu sehen waren, zeichnete das Ereignis auf diese Weise sorgfältig nach, und die so entstehende Serie rückte er einige Zeit später unter der Rubrik »Bildersturm/Zerstörungsszenen« (75/20) in den Bildindex zur Politischen Ikonographie ein, den er in den achtziger Jahren begonnen und – finanziert mit Geldern des ihm 1990 zugesprochenen Leibniz-Preises – im Warburg-Haus ausgebaut hatte. Natürlich hätte Warnke auch die ausführlichen, reich illustrierten Zeitungs- und Zeitschriftenberichte abwarten können, die in der internationalen Presse vom folgenden Tag an erscheinen werden; dort hätte er professionelles Bildmaterial finden können. Doch offenbar war ihm daran gelegen, die künftigen Nutzer seines BPI auch darauf aufmerksam zu machen, dass der Bildchronist dieses Ereignisses mit eigenen Augen sah, was das Fernsehen in die ganze Welt ausstrahlte und durch allerlei Paratexte (Angabe der Uhrzeit, durchlaufende Zeilen mit Nachrichten und aktuellen Börsenwerten, das Wort »Live«) als authentisch beglaubigte.
Die durchaus bewusst komponierten Aufnahmen, die Warnke anfertigte, gingen aber noch einen entscheidenden Schritt weiter, denn der Fotograf beschränkte sich nicht etwa darauf, die gesendeten Bilder festzuhalten, um das Geschehen selbst so nahsichtig und detailliert wie nur möglich zu dokumentieren. Der von ihm gewählte, auf den Fotografien kaum variierte Ausschnitt zeigt darüber hinaus die Umgebung des TV-Geräts, so dass die Aufnahmen gewissermaßen das »Milieu als Porträt« (Donat de Chapeaurouge) wiedergeben. Gerahmt von einer brasilianischen Flagge mit dem Wahlspruch »Ordem e Progresso« als autobiografische Reminiszenz (Warnke wurde 1937 in Ijuí, im südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul geboren) sowie von einer Pinnwand, auf der allerlei Schriftstücke die vielfältigen akademischen Verpflichtungen des Professors für Kunstgeschichte andeuten, steht der Fernseher auf einer gutbürgerlichen Kommode, darüber ein Satelliten-Receiver der Marke PalSat Magic, auf dem wiederum eine zweite, kleinere Brasilienflagge zu sehen ist, begleitet von der Darstellung eines schlichten kolonialen Bauwerks unter Palmen, Warnkes Geburtshaus, rechts und links neben dem Bild jeweils ein Mate-Becher mit zugehörigem Trinkhalm. Kurz und gut: Zu sehen ist hier das Interieur eines durchaus an der »magischen« Macht der Medien interessierten Intellektuellen, der mit Stolz und Wehmut an seine brasilianische Kindheit zurückdenkt.
Auf dem Fernsehbildschirm im Zentrum dieses autobiografischen Arrangements lassen sich die wichtigsten Etappen des schlagartig berühmt werdenden und später in zahlreichen zeitgeschichtlichen wie kunsthistorischen und medienkritischen Publikationen gewürdigten Ereignisses betrachten: von der Gesamtaufnahme der kleinen Menschenmenge, die sich um das Denkmal versammelt hat (16:31 Uhr, Ortszeit Hamburg), an das ein Militärfahrzeug herangefahren wird, auf dem einige Männer, angeführt von einem amerikanischen GI, emporklettern (16:33 Uhr), um den Kopf der zwölf Meter hohen Figur zu erreichen (16:34 Uhr), der zunächst von einem Star-Spangled Banner verhüllt wird (16:35 Uhr), dann eine Schlinge um den Hals gelegt bekommt (16:41 Uhr), die – vom Fahrzeug straff gezogen – die Statue ins Wanken bringt (16:48 Uhr), bis diese schließlich zu Fall kommt (16:50 Uhr). Gezeigt wird hier, und auch das wusste Warnke, wie er mit seinem kinematografischen, alle wesentlichen Handlungen einfangenden Fotoessay unmissverständlich deutlich macht, ein überaus komplexer Vorgang, der nicht nur die materielle Zerstörung eines Kunstwerks im öffentlichen Raum bedeutete.
Als das ikonoklastische Entfernen der Darstellung eines – verhassten, besiegten, nicht selten getöteten – Herrschers oder einer sonstigen Person des öffentlichen Interesses steht der Sturz des Monuments in einer langen, seit der Antike nachweisbaren Tradition, die Warnke selbst in dem von ihm herausgegebenen Sammelband am Beispiel der Bilderstürme der Münsteraner Wiedertäufer untersucht hatte. Dort auch wurde erstmals die produktive Kraft solcher Aktionen beschworen, die keineswegs mit blindwütigem Vandalismus verwechselt werden dürften. Darüber hinaus weisen die Vorgänge in Bagdad aber auch Aspekte einer Hinrichtung in effigie auf, vollzogen am bildlichen Stellvertreter einer Person, derer weder die US-Armee noch die exekutionswillige Menge zu dieser Zeit habhaft werden konnte, sowie Wesensmerkmale einer damnatio memoriae, gespiegelt in der Verhüllung wie in der anschließenden Beseitigung des Denkmals, durch die jede Erinnerung an die eigentlich attackierte Person ausgelöscht werden sollte und dennoch im Medium des Fernsehbildes und seiner gedruckten Surrogate ins Bildgedächtnis der Menschheit eingehen würde. Die »Pathosformel« (Aby Warburg) des erhobenes rechten Arms der Statue, eine nachlebende Geste antiker adlocutio, mit der sich Saddam Hussein ein letztes Mal vergeblich an sein Volk wendet, senkt sich am Ende des destruktiven Akts geradezu symbolisch in den Staub des Platzes: Das Scheitern des Regimes ist damit auch bildlich markiert und wird zudem im Moment der Zerstörung in der ganzen Welt wahr- und für-wahr-genommen. Und selbst die mediale Inszenierung eines solchen Denkmalsturzes, der auf dem Firdos-Platz gerade auch für die anwesenden, im naheliegenden Hotel Palestine residierenden Vertreter der internationalen Presse veranstaltet wurde, hat eine lange ikonografische Tradition. Martin Warnke, als Zeitgenosse, als (medialer) Augenzeuge, konnte an diesem Beispiel miterleben, wie eines der faszinierendsten Phänomene handgreiflicher Rezeption von Kunstwerken einging in die von ihm zeitlebens untersuchte Bilderwelt der politischen Ikonografie.
Uwe Fleckner
Bilder als Akteure des Politischen / Politische Ikonographie

Online: Vortrag des Wissenschaftspreisträgers der Aby-Warburg-Stiftung 2018: Andrea Pinotti, Mailand
Replik der Gewalt, Replik auf die Gewalt
Im Namen der Vorsitzenden der Aby-Warburg-Stiftung Katharina Fegebank, Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg, lud das Warburg-Haus am Dienstag, den 4. Dezember 2018 feierlich zum Vortrag des Wissenschaftspreisträgers der Aby-Warburg-Stiftung 2018, Andrea Pinotti. Cornelia…
Aby Warburg / Politische Emotionen / Publikationen / Wissenschaftspreis

Online: Vortrag von Irene Neverla, Hamburg
Emotionskulturen im (visuellen) Journalismus
Im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema „Politische Emotionen“ sprach Irene Neverla am Dienstag, den 27. November um 19 Uhr im Warburg-Haus über „Emotionskulturen im (visuellen) Journalismus“. Irene Neverla ist emeritierte Professorin für Journalistik und…
Politische Emotionen / Publikationen

Gespenster in Europa. Alternativen für ein anderes Zusammenleben
Themennachmittag mit Kuratorenführung im Kunstverein in Hamburg und Podiumsgespräch im Warburg-Haus
zur Ausstellung Klassenverhältnisse – Phantoms of Perception 17 Uhr Kuratorenführung in der Ausstellung mit Bettina Steinbrügge, Benjamin Fellmann und Tobias Peper Kunstverein, Klosterwall 23 19 Uhr, Warburg-Haus: Podiumsgespräch Gespenster in Europa. Alternativen für ein anderes…
Ausstellung / Politische Emotionen

Online: Vortrag von Hermann Kappelhoff, Berlin
Ein Gefühl für das Gemeinschaftliche: Das Genrekino als Erfahrungsraum urteilenden Denkens
Im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema „Politische Emotionen“ sprach am Dienstag, den 16. Oktober um 19 Uhr Hermann Kappelhoff im Warburg-Haus über das Genrekino als Erfahrungsraum urteilenden Denkens. Hermann Kappelhoff ist Professor am Seminar für Filmwissenschaft der FU Berlin…
Politische Emotionen / Publikationen

Politische Emotionen
Fortsetzung der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema und Veranstaltungen im zweiten Halbjahr 2018
Angst, Sorge, Empörung oder Verachtung, aber auch Vertrauen, Hoffnung, Mitleid, Empathie oder Sympathie werden momentan als politische Kräfte verstärkt diskutiert. Über die zentrale Rolle von Emotionen in politischen Prozessen scheint man sich zwar einig zu sein: Sie gelten als Movens sowohl…
Politische Emotionen

Online: Vortrag von Aby-Warburg-Stiftungsprofessor 2018 Alexander Honold
Rausch, Taumel, Schicksalsergebenheit: Im Planetarium des Krieges
Am Montag, den 2.7.2018 lud die Vorsitzende der Aby-Warburg-Stiftung, Katharina Fegebank, Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg, zum Festvortrag des diesjährigen Stiftungsprofessors. Alexander Honold hielt seinen Vortrag im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema…
Politische Emotionen / Publikationen / Warburg-Professur

Thementag in der Hamburger Kunsthalle: Katastrophen und ihre Wahrnehmung
Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle und der Forschungsstelle »Naturbilder« zur Ausstellung »Entfesselte Natur. Das Bild der Katastrophe seit 1600«
Am 5. Juli fand in der Hamburger Kunsthalle im Rahmen des Jahresschwerpunktes »Politische Emotionen« als Kooperation des Warburg-Hauses, der Hamburger Kunsthalle und der Forschungsstelle »Naturbilder« der Universität Hamburg der Thementag Katastrophen und ihre Wahrnehmung zur Ausstellung…
Politische Emotionen

Der Vortrag von Fritz Breithaupt, Bloomington, am 21. Juni fällt leider aus
Die dunklen Seiten der Empathie
Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass der Vortrag von Fritz Breithaupt am Donnerstag, den 21.06.2018 kurzfristig aufgrund von höherer Gewalt ausfallen muss. Bedauerlicherweise konnte er infolge von Flugausfällen nicht wie geplant rechtzeitig zum Vortrag aus den USA anreisen. Wir bitten, den…
Politische Emotionen

Filmprojektion im Lesesaal: Noam Chomsky und die Medien
»Die Konsensfabrik« (Can, 1992) in Kooperation mit »Flexibles Flimmern«
Das Warburg-Haus fragt 2018 mit seinem Schwerpunktthema nach der politischen Bedeutung von Emotionen. Angst, Sorge, Empörung oder Verachtung, aber auch Vertrauen, Hoffnung, Mitleid, Empathie oder Sympathie werden momentan als politische Kräfte verstärkt diskutiert. Während die einen den Mangel…
Politische Emotionen

Antiromantisches Manifest
Lesung der französischen Autorin Marie Rotkopf, anschließend Gespräch mit Frank Adloff (Universität Hamburg), Moderation: Benjamin Fellmann (Warburg-Haus)
Im Rahmen des Jahresschwerpunktes Politische Emotionen las am Donnerstag, den 29. Mai 2018 die französische Schriftstellerin, Künstlerin und Kulturkritikerin Marie Rotkopf im Warburg-Haus aus ihrem Antiromantischen Manifest. Die Veranstaltung fand als Kooperation mit dem Verlag Edition Nautilus,…
Politische Emotionen

Online: Vortrag von Sigrid Weigel
Vom Mitgefühl
Im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema Politische Emotionen sprach Sigrid Weigel am Dienstag, den 15.5.2018 im Warburg-Haus »vom Mitgefühl«. Sigrid Weigel ist seit 2005 Regular Visiting Professor at the German Dept. of Princeton University, ehemalige Direktorin des ZfL Zentrums für…
Politische Emotionen / Publikationen

Online: Vortrag von Hans-Peter Krüger
Zur politischen Gefühlskultur in der Demokratie
Auftaktvortrag zur Vortragsreihe zum Schwerpunktthema Politische Emotionen am 26.4.2018 im Warburg-Haus von Hans-Peter Krüger, Inhaber der Professur für Politische Philosophie/ Philosophische Anthropologie an der Universität Potsdam. Die Aufzeichnung erfolgte durch das Team des eLearning-Büros…
Politische Emotionen / Publikationen

Filmprojektion im Lesesaal: Aby Warburg und der Erste Weltkrieg
"Rather Die Than Die" (F, 2017) von Natacha Nisic mit »Flexibles Flimmern«
Am Montag, den 16. April 2018 und Dienstag, den 17. April zeigte das Warburg-Haus in Kooperation mit »Flexibles Flimmern. Das mobile Kino« im vollen Lesesaal den Film Rather Die Than Die (Eher Sterben als Sterben) der Pariser Künstlerin Natacha Nisic. Der Film ist eine Auftragsarbeit des…
Politische Emotionen

Neuerscheinung DVD »Rather Die Than Die« von Natacha Nisic
Ein Film der Pariser Künstlerin über Aby Warburg und den I. Weltkrieg, der zum Teil im Warburg-Haus gedreht wurde
Für ihren jüngsten Film »Plutôt mourir que mourir« / »Rather Die Than Die« (Eher Sterben als Sterben), eine Auftragsarbeit des französischen Kulturministerium unter Federführung des Centre national des arts plastiques aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums des Endes des I. Weltkrieges…
Neuerscheinungen / Politische Emotionen

Politische Emotionen
Schwerpunktthema 2018
Angst, Sorge, Empörung oder Verachtung, aber auch Vertrauen, Hoffnung, Mitleid, Empathie oder Sympathie werden momentan als politische Kräfte verstärkt diskutiert. Über die zentrale Rolle von Emotionen in politischen Prozessen scheint man sich zwar einig zu sein: Sie gelten als Movens sowohl…
Politische Emotionen