Tagebuch

Bildkarte des Monats: Januar
Fundstücke aus dem Digitalisierungsprojekt »Bildindex zur Politischen Ikonographie«
Brot und Bild
Claes Oldenburgs »Crispbread« und das Politische des Bildes
Brotlos ist die Kunst bestimmt nicht. Im Bildindex zur Politischen Ikonographie erinnert daran unter anderem eine Postkarte. Vor neutralem Hintergrund zeigt sie ein Rechteck, dessen Grundfläche über die angeschrägten Kanten mit einer geringfügig verschmälerten Oberfläche verbunden ist. So gibt sich das Rechteck bei näherer Betrachtung als flacher Quader zu erkennen. Das Volumen des Körpers findet sich ebenfalls in den Vertiefungen ausgedrückt, die in unregelmäßigen Abständen in die raue Oberfläche eingebracht sind. In Verbindung mit der goldbraunen Einfärbung erscheint diese spezifische Form unmittelbar vertraut, weckt in den Betrachtenden Assoziationen, die der Titel des abgebildeten Objektes bestätigt: Crispbread ist eine 1966 entstandene Arbeit des amerikanischen Künstlers Claes Oldenburg, der gemeinhin zu den prominentesten Akteuren der Pop Art gezählt wird.
Tatsächlich scheint Crispbread die Kriterien dieser modernen Kunstrichtung geradezu lehrbuchhaft vorzuführen: die Zuwendung zu konkreten Objekten des alltäglichen Lebens, vorzugsweise Konsumgütern, in Abkehr von den abstrahierenden Ausdrucksformen des Expressionismus sachlich nachgebildet und nicht selten in industriellem Maßstab vervielfältigt. Als Grundnahrungsmittel ist das Brot als idealer, ja, archetypischer Gegenstand einer solchen Kunstrichtung prädestiniert. Die Skulptur ist denn auch nicht die einzige Arbeit, in der sich Oldenburg mit der Form des Knäckebrots auseinandersetzt. In einem Aquarell aus demselben Jahr, Crispbread-Playfield, ist ein solches an den Schmalseiten jeweils um ein Fußballtor ergänzt und so zum Spielfeld metamorphosiert. Den antiken Topos panem et circenses evozierend mag das Blatt die sozio-politische Realität von Öffentlichkeit kommentieren; vor allem aber spielt es mit den Konventionen von Wahrnehmung und Maßstab. Oldenburgs berühmteste Arbeiten sind plastische, in Übergröße ausgeführte Nachbildungen banaler Gegenstände. Crispbread hingegen entspricht mit 9,4 mal 16,2 Zentimetern den Maßen eines gewöhnlichen Knäckebrots. Die Verfremdung, die mit dem künstlerischen Zugriff einhergeht, erfolgt im Material. Das Brot ist nicht gebacken, sondern in Eisen gegossen, nunmehr Barren, nicht Laib. In einer Gussform hergestellt ist es reproduzierbar und folgerichtig in einer Auflage von mehreren hundert Stück gefertigt. Das als Ware feilgebotene Kunstwerk ist ein hartes Brot und das Brot, in die Sphäre der Kunst überführt, schwere Kost.
Im Bildindex zur Politischen Ikonographie scheint die Dimension der Verwandlung zunächst ausgeklammert. Vielmehr wird der Aspekt der Imitation hervorgekehrt. Zumindest ist Oldenburgs Knäckebrot durch Martin Warnke mit dem Stichwort »Nachahmung« (640/125) versehen worden. Wann dies geschehen ist, lässt sich nicht feststellen. Auf der Rückseite der Postkarte finden sich jedoch Warnkes Adresse in Münster, wo er sich 1970 habilitierte, sowie ein Aufdruck zur Herkunft der Karte: das Museum für Moderne Kunst in Stockholm, wo 1966 eine Ausstellung der Zeichnungen und Skulpturen Oldenburgs gezeigt wurde. Daraus darf geschlossen werden, dass Crispbread Warnke als zeitgenössische Arbeit begegnet und die Postkarte bereits Teil seines persönlichen Bildarchivs gewesen ist, bevor aus diesem der Bildindex als wissenschaftlicher Apparat hervorging. Folglich ist die Karte zum Kernbestand der im Warburg-Haus verwahrten Bildersammlung zu zählen. Einen solchen Stellenwert bestätigen die Implikationen, die sich aus dem ihr zugewiesenen Stichwort ergeben.
Die Systematik des Bildindex gründet in der thematischen sowie methodischen Anlage von Warnkes Arbeit. Horst Bredekamp hat unlängst auf einen grundlegenden Wesenszug dieser Arbeit hingewiesen: »Das Denken in Gegensätzen und die Spannung von Widersprüchen […] war ihm aber gleichsam naturhaft vertraut. Aus diesem Grund war es unmöglich, in seiner Gegenwart nicht unablässig die eigenen Überlegungen zu überprüfen und von ihrem Gegenteil her zu durchdenken« (»Wie es sein sollte«. Kunst als Vorbild, in: Martin Warnke: Warburgs Schnecke. Kulturhistorische Skizzen (hrsg. von Matthias Bormuth), Göttingen 2020, S. 23). Im Sinne dieser zum Imperativ erhobenen Dialektik ist eine Kategorie wie die der »Nachahmung« mit einem Fragezeichen zu versehen. In Konfrontation mit Oldenburgs Crispbread folgt daraus eine Problemstellung, die nicht weniger als die Frage nach der Gleichnishaftigkeit der Kunst berührt.
Als »Nachahmung« begriffen verweist Crispbread unmittelbar auf das theologisch fundierte und die europäische Bildkultur nachhaltig prägende Verhältnis von Brot und Bild. Aus dem weiten Spektrum der in diesem Kontext potenziell relevanten Gegenstände sei beispielhaft das Sujet der Gregorsmesse herausgegriffen. Hier ist im Bilde eindrücklich vorgeführt, wie signifikant Hostie und Imago Christi im Kontext des Spannungsfelds von Präsenz und Repräsentation aufeinander bezogen sind. Die Epiphanie des fleischgewordenen Logos verbürgt die Realpräsenz der Hostie, verdoppelt zugleich die am Altar meist als Kruzifix installierte Repräsentation der Gottheit, während sie diese als Schmerzensmann vorstellt, von den Attributen der Passion umgeben und somit noch in einem dritten Bildnis gegenwärtig: der Veronika. Die Legende von der Erscheinung Christi im Augenblick der Transsubstantiation erhebt den Anspruch, den Abendmahlsstreit zu entscheiden, und verbindet sich hierfür mit jener Ikone, die sich zuvor im Zuge des Bilderstreits ausgeprägt hat. Die Fiktion der eucharistischen Realpräsenz ist auf die legitimierenden Strategien visueller Repräsentation angewiesen. In Relation zum Leib sind Brot und Bild als Signifikanten nicht voneinander zu trennen.
Indem er die Bildgeschichte kurzschließt und modernes Kunstwerk und mittelalterliche Bildtheorie assoziiert, kennzeichnet der Bildindex zur Politischen Ikonographie Brot und Bild als einander ebenbürtige Medien der Präsenz. Das im Medium einer Darstellung wiederholte Brot ist folgerichtig eine Form, die nicht Bild von Brot, sondern Bild und Brot zugleich ist. Die Postkarte von Oldenburgs Crispbread gibt demnach keineswegs ein Beispiel für die nachahmende Kunst, sondern führt eine spezifische Präsenz des Kunstwerks vor, die im Zuge der Verwandlung von Brot in Bild noch gesteigert ist. Die gleich zweifache Präsenz hebelt die Kategorie, der sie zugeordnet ist, kurzerhand aus und stellt sie konsequent in Frage. Die Postkarte erweist sich als methodischer Sprengsatz, der kaum zufällig an dieser neuralgischen Stelle platziert worden sein dürfte. Denn die Befähigung der Kunst, immer wieder den ihr voreilig zugewiesenen Status einer Wirklichkeit zweiter Ordnung zu unterlaufen und eine eigene Wirklichkeit zu beanspruchen, kraft der sie auf die sie umgebene Wirklichkeit einwirkt und diese mitgestaltet, liegt als Axiom dem Bildindex insgesamt zugrunde. Er ist nicht der Darstellung des Politischen im Bild gewidmet, die das Pikturale zur bloßen Illustration gerinnen lässt, sondern dem Politischen des Bildes selbst, dem Bild als politischem Akteur und Teilhaber an politischen Prozessen.
Die den Gegenständen eigene Autonomie, die Voraussetzung für ein solches Bildverständnis ist, lässt sich noch in Bezug auf die Postkarte und somit auch die übrigen materiellen Bildkarten geltend machen, deren Summe der Bildindex ist. Auch die Postkarte widersetzt sich dem Stichwort der »Nachahmung«; ihr Wesen ist nicht auf die Reproduktion von Oldenburgs Crispbread beschränkt. Erst die Frontalität der dokumentierenden Fotografie kehrt die Bildlichkeit der Skulptur hervor, und erst als Postkarte tritt dieses Bild in das diskursive Gefüge des Bildindex ein. Die Bildkarte erschließt Bedeutungszusammenhänge, wie sie hier lediglich skizziert wurden, und partizipiert an der Konstitution von Bildgeschichte.
Johannes von Müller
Bilder als Akteure des Politischen II / Politische Ikonographie

Diskussion mit Ursula Frohne zum Vortrag anlässlich des 91. Todestages von Aby Warburg: »Bilderströme. Vernetzte Bildordnungen im Zeitalter des digitalen Apriori«
Videokonferenz mit Ursula Frohne zum Online-Vortrag
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Online: Vortrag von Ursula Frohne anlässlich des 91. Todestages von Aby Warburg
Bilderströme. Vernetzte Bildordnungen im Zeitalter des digitalen Apriori
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Aby Warburg / Die Künste im technischen Zeitalter II / Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg / Publikationen

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Anlässlich des 90. Todestages von Aby Warburg lud die Aby-Warburg-Stiftung am Montag, den 25. November 2019 um 19 Uhr zum Vortrag von Bill Sherman, Direktor des Warburg Institute, London: »Aby Warburg and the Renaissance of the Library«. Bill Sherman war Gründungsdirektor des…
Aby Warburg / Die Künste im technischen Zeitalter / Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg / Publikationen

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Anlässlich des 89. Todestages von Aby Warburg lud die Aby-Warburg-Stiftung am Dienstag, den 30. Oktober 2018 um 19 Uhr ein zum Vortrag von Christoph Martin Vogtherr, Direktor der Hamburger Kunsthalle: »Zufall als künstlerische Methode. Watteau, Caylus und die Pariser Akademie«. Aby Warburg…
Aby Warburg / Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg / Publikationen

Hila Laviv: SommerHaus-CutOut
Eine Ausstellung und Performance im Lesesaal, inspiriert von Anna Warburgs Erinnerungsalbum, 15. + 18. Oktober 2018
Kuratiert von Gil Cohen. Montag, 15. Oktober, 19.30 Uhr Donnerstag, 18. Oktober, 19.00 Uhr Als Auftaktveranstaltung des Warburg-Hauses zum Universitätsjubiläum 2019 setzte sich in einer Performance und Ausstellung die israelische Künstlerin Hila Laviv, unterstützt von Dana Yoeli, im Lesesaal…
Ausstellung / Die Künste im technischen Zeitalter / Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg / Universitätsjubiläum 2019

152. Geburtstag von Aby Warburg
Aby Moritz Warburg, 13.6.1866 - 26.10.1929
Heute ist der 152. Geburtstag von Aby Warburg! Eine Einführung zur Biografie Aby Warburgs und der Geschichte der kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg geben die Online-Dossiers des Warburg-Hauses. Die Links führen jeweils auf Seiten mit Überblicken zu Aby, der K.B.W. und dem Warburg-Haus…
Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg / OnThisDay

28. Juli 2017 – 143. Geburtstag des Philosophen Ernst Cassirer
von Birgit Recki anlässlich des Geburtstages des großen Kulturphilosophen und Erkenntnistheoretikers
Ernst Cassirer, der sein philosophisches Werk in engem Kontakt mit der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg und im intensiven Austausch mit ihrem Gründer entwickelte, wurde am 28. Juli 1874 als zweites von sieben Kindern des Kaufmanns Eduard Cassirer und seiner Frau Jenny in Breslau…
Ernst Cassirer / Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg

„Deines Geistes Reife“: Erwin Panofsky schreibt Ernst Cassirer ein Kurzgedicht
Zum Geburtstag von Ernst Cassirer: Ein Fundstück aus dem Warburg-Archiv
Zum Geburtstag des bedeutenden Kulturphilosophen und Philosophiehistorikers, Erkenntnis- und Wissenschaftstheoretikers Ernst Cassirer (*28. Juli 1874) zeigen wir ein Fundstück aus dem Warburg-Archiv im Warburg-Haus, Nr. 1048: Panofsky an Cassirer Deines Geistes Reife Tat mir arg…
Ernst Cassirer / Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg

„wir suchen unsere Ignoranz auf und schlagen sie, wo wir sie finden“
Aby Warburg über seine Leitsätze
Anlässlich seines Seminars an der Universität Hamburg im Wintersemester 1925/26 formulierte Aby Warburg zwei Leitsätze – der liebe Gott, der im Detail stecke, ist vielzitiert und heute sehr bekannt. Aber auch der zweite, den Warburg an erster Stelle nennt, scheint heute als Apell…
Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg / OnThisDay

Studien der Bibliothek Warburg digital zugänglich
Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg digitalisiert Publikationen der K.B.W.
Über die Staats- und Universitätsbibliothek ist nun ein Teil der Studien der Bibliothek Warburg digital und open access abrufbar. So kann man beispielsweise den 1924 erschienenen Band „Die Geburt des Kindes. Geschichte einer religiösen Idee“ von Eduard Norden nicht nur auf der…
Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg

Die Ellipse als visuelles Symbol der Freiheitsidee
Warburg und Cassirer I
Im ehemaligen Lesesaal der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg tagen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei ihren Veranstaltungen unter einem elliptischen Oberlicht. Dies ist ausdrücklich dafür geschaffen, dass man sich hier an Freiheit erinnert und zur Freiheit ermutigt sieht. Aby…
150. Geburtstag Aby Warburgs / Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg

„Fühlungnahme durch tägliche Tagebuchnotizen“
Vor 90 Jahren: die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg beginnt ihr Tagebuch
Heute vor 90 Jahren, am 24. August 1926, führte Aby Warburg das „Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg“ ein. Nach dem Einzug der K.B.W. in den Neubau sollten regelmäßige Eintragungen Warburgs und der Kollegen Gertrud Bing und Fritz Saxl die Aktivitäten in der…
Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg / OnThisDay

Die Diasammlung. Labor und Archiv der Kunstgeschichte in Hamburg
Ausstellungstipp
Mit der Digitalisierung verlieren Diapositive für die kunstgeschichtliche Forschung und Lehre an Bedeutung – höchste Zeit, sie als historische Objekte und Zeugnisse der Wissenschaftsgeschichte in den Blick zu rücken: Studierende am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg sind…
Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg

Volles Warburg-Haus mit Aby und Mary, Wissenschaft und Kunst
Rückblick auf den Tag der offenen Tür zum 150. Geburtstag von Aby Warburg
Ein volles Haus zu Ehren Warburgs! So viele interessierte Besucherinnen und Besucher zu unserem Tag der offenen Tür zum 150. Geburtstag des Kunst- und Kulturwissenschaftlers begrüßen zu können, war ein tolles Geburtstagsgeschenk am 13. Juni. Die rege Berichterstattung und das große…
150. Geburtstag Aby Warburgs / Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg / Mary Warburg / Publikationen / Warburg-Professur

Bau und Bibliothek
Zum 90. Jahrestag der Eröffnung der K.B.W.
Am 1. Mai 1926 wurde die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg mit einem Vortrag von Ernst Cassirer feierlich eröffnet. Architektur und Bibliothek, Innen und Außen waren in der Konzeption der K.B.W. auf das Engste verknüpft. Genau diese Beziehung zwischen Bau und Büchern bildete auch den…
Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg