Journal
Bildkarte des Monats: November
Fundstücke aus dem Digitalisierungsprojekt »Bildindex zur Politischen Ikonographie«
Angriff auf das Traumauge
»Un chien andalou« und die ikonoklastische Geste des surrealistischen Kinos
In den Memoiren des surrealistischen Filmemachers Luis Buñuel, der 1925 Madrid verlassen hatte und in Paris zum engeren Kreis der Avantgardisten gehörte, wird die vielzitierte Anekdote eines Aufeinandertreffens mit Salvador Dalí geschildert, das nichts weniger als eine der Urszenen des surrealistischen Kinos hervorgebracht hat: »Dalí hatte mich eingeladen, ein paar Tage bei ihm in Figueras zu verbringen, und als ich dort ankam, erzählte ich ihm, dass ich kurz vorher geträumt hätte, wie eine langgezogene Wolke den Mond durchschnitt und wie eine Rasierklinge ein Auge aufschlitzte« (Luis Buñuel: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen, Königstein 1983, S. 93). Wie Buñuel schreibt, waren die künstlerischen Vorhaben der beiden Freunde nicht unwesentlich motiviert »vom amour fou zum Traum, dieser Lust zu träumen« (ibid., S. 82). Sowohl der Regisseur selbst als auch Dalí fanden durch ihre ausgeprägte Oneirophilie zum Surrealismus. Un chien andalou, das kinematografische Resultat, das aus dem gemeinsam verfassten Drehbuch hervorging, sollte als der erste skandalumwitterte Experimentalfilm Buñuels Kinogeschichte schreiben und definierte die Standards surrealistischer Filmkunst. Kaum eine Szene aus jener Zeit, in der das Kino noch in den Kinderschuhen steckte, hat sich dabei so vehement in das Bildgedächtnis eingebrannt wie die Eröffnungssequenz des Films, die den Traum des Regisseurs visualisiert und mit dem Rasiermesserschnitt durch ein Auge endet (vgl. Bewusste Halluzinationen. Der filmische Surrealismus (hrsg. vom Deutschen Filminstitut), Deiningen 2014).
Die mise en scène jenes surrealistischen Kurzfilms, der am Abend des 6. Juni 1929 in einem Pariser Lichtspielhaus, dem 1926 im 5. Arrondissement eröffneten Studio des Ursulines, vorgeführt wurde, lässt sich indes schwerlich auf einen leitmotivischen Begriff bringen. Gleich einer Kette von Traummetaphern zeigen sich mit jeder fortschreitenden Filmminute szenische Ungereimtheiten: Assoziative Überblendungen irritieren jene Linearität der visuellen Narrative, wie sie seit dem Advent des Stummfilms auf die Leinwände projiziert wurden. Dabei erscheinen die verblüffenden Montagekniffe einer filmischen écriture automatique als Teil einer gestalterischen Methode auf der Leinwand, die André Breton bereits 1924 im ersten Manifest des Surrealismus als literarisches, die Grenzen zum Unbewussten überschreitendes Vorgehen beschworen hatte. Allem voran offenbarte sich die Eingangsszene des Kurzfilms dem hochkarätigen Premierenpublikum an diesem Abend als Schockmoment, denn das Szenario beginnt mit der Verletzung, ja, der Blendung des Sehvermögens, jenes »aller edelst sin[n] des menschen« (Albrecht Dürer: Das Lehrbuch der Malerei, in: Hans Rupprich (Hrsg.): Dürer. Schriftlicher Nachlaß, Bd. 2, Berlin 1966, S. 81-394, S. 112).
Mit Un chien andalou wurde buchstäblich der Schnitt gesetzt, der am Vorabend der Weltwirtschaftskrise das Ende der Stummfilm-Ära markierte. Unmissverständlich war bereits in den ersten Minuten des Kurzfilms ein symbolischer Angriff auf die Konventionen des etablierten Kinos unternommen worden, auf das Dispositiv, das der Filmtheoretiker Jean-Louis Baudry in seinen psychoanalytischen Betrachtungen zu diesem Medium als eine ideologisch-apparative Anordnung charakterisieren sollte, die den Kinobesucher in einen traumähnlichen Illusionszustand versetze und ein konzeptuelles Äquivalent jenes bekannten Höhlengleichnisses sei, wie es von dem antiken Philosophen Platon in der Politea beschrieben worden war. Die geradezu körperliche Verschmelzung zwischen Apparatur und Beschauer bedinge, so heißt es, einen illusionistischen »Realitätseindruck« (Jean-Louis Baudry: Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 48/1994, S. 1047-1074). Tatsächlich ist es bemerkenswert, dass Buñuel und Dalí angesichts dieser erst Jahrzehnte später beschriebenen speziellen Rezeptionssituation mit einer derart körperlichen Metapher operieren, die filmhistorisch vor allem als eines gewertet wurde, nämlich als die subversive Geste des surrealistischen Kinos (vgl. Allen Thiher: Surrealism’s Enduring Bite: Un Chien Andalou, in: Literature / Film Quarterly 1/1977, S. 38-49).
Losgelöst von seinem filmischen Kontext wurde der entscheidende Moment des ikonischen Prologs von Un chien andalou als Reproduktion in den Bildindex zur Politischen Ikonographie aufgenommen. Eingefügt in die Rubrik »Gesten/Auge« (200) findet sich jene Einstellung, die den eingangs geschilderten Traum Buñuels expliziter nicht hätte darstellen können: Eingefasst von einer engen Rahmung zeigt die filmische Nahaufnahme, die als Abbildung ursprünglich einem Artikel über das Augenmotiv in der surrealistischen Kunst beigegeben war, den bis heute verstörenden Schnitt (vgl. Jeanne Siegel: The Image of the Eye in Surrealist Art and it’s Psychoanalytic Sources, Part One: The Mythic Eye, in: Arts Magazine 6/1982, S. 102-106, S. 105). Neben Werken von Künstlern wie Giorgio de Chirico, Man Ray oder Max Ernst führt die Autorin darin die Filmszene an, nicht nur um die motivische Begeisterung der Surrealisten für die flüssige Konsistenz des Augeninneren zu illustrieren, sondern auch, um die Szene mit dem Schnitt durch den Augapfel schließlich als »the most shocking depiction of eye mutilation« zu charakterisieren (ibid., S. 106). Dass es sich, wie auf der Reproduktion zu erkennen ist, bei dem Opfer der Gewalttat um ein Tier handelt, nimmt dabei zwar der Betrachter des Einzelbildes, nicht aber der Filmzuschauer wahr. Die Anfangssequenz von Buñuels Meisterwerk zeigt nämlich einen Mann, der kurz zuvor ein Rasiermesser geschärft und zum Schnitt an das weit geöffnete Auge einer weiblichen Filmfigur angesetzt hat. Im syntaktischen Nacheinander der auf dem Celluloidstreifen montierten Aufnahmen folgt dann bei Minute 1:40 der auf der Bildkarte zu sehende Schnitt, der Filmgeschichte geschrieben hat.
Das Auge ist ein symbolhistorisch vielfach besetztes Motiv. Im Alten Ägypten beispielsweise galt die Darstellung des sogenannten Udjat-Auges als Bildformel, mit der geistige Dimensionen der inneren Schau sowie Qualitäten universeller Weisheit hieroglyphisch veranschaulicht wurden. In der christlichen Ikonografie wiederum erscheint das Auge umgeben von Dreicksform und Strahlenkranz als bildlicher Hinweis auf die Trinität und damit als weitverbreitetes Symbol des allsehenden Gottesauges. Bei Leon Battista Alberti finden wir das geflügelte Auge im 15. Jahrhundert schließlich als Emblem seiner kunsttheoretischen Auffassungen. Und nicht selten verbinden sich mit der Darstellung des Auges in profanen wie in religiösen Zusammenhängen auch apotropäische Eigenschaften (vgl. Udo Becker: Lexikon der Symbole, Freiburg 1998, S. 28).
Bildbelege für Beispiele der verschiedenen Augen-Ikonografien lassen sich im Bildindex zur Politischen Ikonographie zahlreich nachweisen, insbesondere dort, wo jenem häufig verwendeten Symbol unter dem weit aufgefächerten Stichwort »Gesten« ein eigenes Sublemma zugeteilt wird. Als Darstellung eines Schnittes durch den Augapfel ist die Abbildung aus Buñuels Film jedoch auch im Konvolut der Bildkarten unter der Rubrik »Gesten/Auge« einzigartig. Zwar finden wir eine weitere Bildkarte, die die darauf zu sehende Reproduktion unter der Überschrift »Schnitt durch das menschl. Auge« konserviert, allerdings handelt es sich hierbei nicht wie im Fall des surrealistischen Motivs um die explizite Mutilation des Sinnesorgans auf einem fotografischen Bildzeugnis, sondern um die schematische Zeichnung eines anatomischen Augenmodells, wie es laut Bildunterschrift im Jahr 1983 in dem naturwissenschaftlichen Magazin Spektrum der Wissenschaft erschien. Der isolierte Filmstill, der den Vorgang der Blendung zeigt, mit dem nicht nur das Auge, sondern auch die herkömmliche filmische Narration verletzt wird, ließe sich hingegen eher mit zahlreichen Bildbelegen unter dem Lemma »Bildersturm« (75) vergleichen. Denn auch Bilderstürmer nahmen beim zerstörerischen Akt der damnatio memoriae vor allem eine ganz besondere auf den attackierten Artefakten dargestellte Körperpartie ins Visier: die Augen (vgl. Uwe Fleckner: Damnatio memoriae, in: Uwe Fleckner, Martin Warnke u. Hendrik Ziegler (Hrsg.): Handbuch der Politischen Ikonographie, München 2011, 2 Bde., Bd. 1, S. 208-215).
Elif Akyüz
Bilder als Akteure des Politischen II / Politische Ikonographie
Ab 4. März: Aby Warburg und die Pueblo-Kunst. Ausstellung im MARKK Hamburg
»Blitzsymbol und Schlangentanz«: Das Museum am Rothenbaum zeigt zum ersten Mal alle erhalten gebliebenen Werke aus Aby Warburgs Sammlung von Kunst-, Zeremonial- und Alltagsgegenständen der Pueblo-Gesellschaften
Blitzsymbol und Schlangentanz Aby Warburg und die Pueblo-Kunst Ausstellung im MARKK Hamburg – Museum am Rothenbaum Kulturen und Künste der Welt, 4. März 2022 – 8. Januar 2023 . Aby Warburg (1866 – 1929) ist weltweit bekannt als Begründer der modernen kulturwissenschaftlich orientierten…
Aby Warburg / Neuerscheinungen
Vortrag anlässlich des 92. Todestages von Aby Warburg: Charlotte Klonk, Berlin
In der Echokammer der Bilder. Der 6. Januar 2021 und die Krise der Demokratie
Charlotte Klonk, Professorin für Kunst und neue Medien am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin, hielt am 28. Oktober auf Einladung der Aby-Warburg-Stiftung den Vortrag anlässlich des diesjährigen 92. Todestages von Aby Warburg (13.6.1866-26.10.1929): »In…
Aby Warburg / Bilder als Akteure des Politischen / Politische Ikonographie
Vortrag von Uwe Fleckner: Aus dem Tagebuch einer Schnecke. Carl Georg Heises frühe Jahre mit Aby Warburg
Lübeck, Mittwoch, 27. Oktober 2021, 19.00 Uhr, im Rahmen der Vortragsreihe der Overbeck-Gesellschaft und des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Hamburg
Wir laden Sie herzlich ein zu einem Vortrag von Uwe Fleckner, federführender Direktor des Warburg-Haus 2021 – 2022: Aus dem Tagebuch einer Schnecke. Carl Georg Heises frühe Jahre mit Aby Warburg am Mittwoch, den 27. Oktober 2021, um 19.00 Uhr in den Großen Saal der Gemeinnützigen,…
Aby Warburg / Bilder als Akteure des Politischen
Diskussion mit Ursula Frohne zum Vortrag anlässlich des 91. Todestages von Aby Warburg: »Bilderströme. Vernetzte Bildordnungen im Zeitalter des digitalen Apriori«
Videokonferenz mit Ursula Frohne zum Online-Vortrag
Ursula Frohne, Münster, hielt auf Einladung der Aby-Warburg-Stiftung im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema »Die Künste im technischen Zeitalter II« den Vortrag anlässlich des diesjährigen 91. Todestages von Aby Warburg: »Bilderströme. Vernetzte Bildordnungen im Zeitalter des…
Aby Warburg / Die Künste im technischen Zeitalter II / Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg
Online: Vortrag von Ursula Frohne anlässlich des 91. Todestages von Aby Warburg
Bilderströme. Vernetzte Bildordnungen im Zeitalter des digitalen Apriori
Coronabedingt wird der Vortrag dieses Jahr online zur Verfügung gestellt. Ursula Frohne, Münster, hält auf Einladung der Aby-Warburg-Stiftung im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema »Die Künste im technischen Zeitalter II« den Vortrag anlässlich des diesjährigen 91. Todestages von…
Aby Warburg / Die Künste im technischen Zeitalter II / Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg / Publikationen
Online: Vortrag anlässlich des 90. Todestages von Aby Warburg
Bill Sherman, The Warburg Institute, London: Aby Warburg and the Renaissance of the Library
Anlässlich des 90. Todestages von Aby Warburg lud die Aby-Warburg-Stiftung am Montag, den 25. November 2019 um 19 Uhr zum Vortrag von Bill Sherman, Direktor des Warburg Institute, London: »Aby Warburg and the Renaissance of the Library«. Bill Sherman war Gründungsdirektor des…
Aby Warburg / Die Künste im technischen Zeitalter / Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg / Publikationen
Tag der offenen Tür am Warburg-Haus
Dienstag, 25. Juni 2019, ab 12.00 Uhr, Festvortrag: 19.00 Uhr
Am Dienstag, den 25. Juni 2019 luden die Aby-Warburg-Stiftung und die Universität Hamburg herzlich ein zu einem Tag der offenen Tür am Warburg-Haus aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums der Universität Hamburg, bei deren Aufbau nicht nur Aby Warburg und seine Familie maßgeblich mitwirkten,…
Aby Warburg / Bilderfahrzeuge / Die Künste im technischen Zeitalter / Universitätsjubiläum 2019
Stadtspaziergang mit Hermann Hipp
Schöne Bauwerke als Spuren und Manifeste - Fritz Schumacher und Aby Warburg in Eppendorf
Am Donnerstag, den 16. Mai versammelte sich um 15.30 Uhr eine Gruppe von 25 Personen im Warburg-Haus, um sich im Rahmen des Jahresprogramms 2019 »Die Künste im technischen Zeitalter« anlässlich des Universitätsjubiläums gemeinsam mit Prof. Dr. Hermann Hipp auf einen thematischen…
Aby Warburg / Die Künste im technischen Zeitalter / Universitätsjubiläum 2019
Stadtspaziergang mit Karen Michels
Aby Warburg – Im Geiste Florentiner, Hamburger im Herzen!
Am Dienstag, den 16. April versammelte sich um 15.30 Uhr eine Gruppe von 23 Personen vor dem Rathausportal, um sich im Rahmen des Jahresprogramms 2019 »Die Künste im technischen Zeitalter« anlässlich des Universitätsjubiläums gemeinsam mit PD Dr. Karen Michels auf einen thematischen…
Aby Warburg / Die Künste im technischen Zeitalter / Universitätsjubiläum 2019
Führung mit Prof. Martin Warnke und Benjamin Fellmann: Das Warburg-Haus und der Bildindex zur Politischen Ikonographie
In Kooperation mit dem Denkmalverein Hamburg
Am Samstag, den 26. Januar führten Martin Warnke, ehemaliger Leiter des Warburg-Hauses, Herausgeber von Aby Warburgs “Bilderatlas Mnemosyne” und Benjamin Fellmann, wissenschaftlicher Koordinator des Warburg-Haus, die Besucher durch das Warburg-Haus, seine Bibliotheken und Archive und…
Aby Warburg / Die Künste im technischen Zeitalter / Politische Ikonographie / Universitätsjubiläum 2019
Online: Vortrag des Wissenschaftspreisträgers der Aby-Warburg-Stiftung 2018: Andrea Pinotti, Mailand
Replik der Gewalt, Replik auf die Gewalt
Im Namen der Vorsitzenden der Aby-Warburg-Stiftung Katharina Fegebank, Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg, lud das Warburg-Haus am Dienstag, den 4. Dezember 2018 feierlich zum Vortrag des Wissenschaftspreisträgers der Aby-Warburg-Stiftung 2018, Andrea Pinotti. Cornelia…
Aby Warburg / Politische Emotionen / Publikationen / Wissenschaftspreis
Online: Vortrag von Christoph Martin Vogtherr anlässlich des 89. Todestages von Aby Warburg
Zufall als künstlerische Methode. Watteau, Caylus und die Pariser Akademie
Anlässlich des 89. Todestages von Aby Warburg lud die Aby-Warburg-Stiftung am Dienstag, den 30. Oktober 2018 um 19 Uhr ein zum Vortrag von Christoph Martin Vogtherr, Direktor der Hamburger Kunsthalle: »Zufall als künstlerische Methode. Watteau, Caylus und die Pariser Akademie«. Aby Warburg…
Aby Warburg / Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg / Publikationen
Just published: Aby Warburg: Images from the Territory of the Pueblo Indians in North America. Lectures and photographs
Volume III.2 of Aby Warburg's Collected Writings - Study Edition, edited by Uwe Fleckner
Volume III.2 of Aby Warburg’s Collected Writings in the study edition has just appeared: Bringing together Warburg’s lectures and photographs, »Images from the Territory of the Pueblo Indians in North America« was edited by Uwe Fleckner. In September 1895, Aby Warburg started out on his…
Aby Warburg / Neuerscheinungen