Journal
Bildkarte des Monats: Dezember
Fundstücke aus dem Digitalisierungsprojekt »Bildindex zur Politischen Ikonographie«
Die unpolitische Karte
Bildorganisation nach dem »Gesetz der guten Nachbarschaft«
Eine der interessantesten, da heterogensten Rubriken des Bildindex zur Politischen Ikonographie ist zweifelsohne diejenige, die den wenig spezifischen Oberbegriff »Motive« (300) trägt. Unter einer Reihe von Schlagworten wie »Genre«, »Literarische Themen« oder »Ungegenständliches« wurden in ihr viele Bildkarten ohne verbindende gattungstheoretische Kriterien oder Ikonografien zusammengefasst. Die Abbildungen, die in dieser Abteilung vereint wurden, provozieren schon allein dadurch die Aufmerksamkeit des Betrachters, dass sich für sie oft nicht auf Anhieb ein dezidiert politischer Gehalt diagnostizieren lässt.
Eine dieser Karten zeigt das Piktogramm eines grafisch bizarr formulierten Gesichts mit tierisch-anthropomorphen Zügen, dessen phänotypische Merkmale sich aus Parenthesen, Interpunktionszeichen und den uneinheitlich dimensionierten Typen einer Serifen-Antiqua zusammensetzen: Während der Umriss der Kopfform durch runde Klammern angedeutet wird, bildet ein überproportionierter Buchstabe »T« die Nasen- und Stirnpartie des Pseudoporträts, an dessen vertikalen Schaft wiederum die Majuskeln eines »C« und eines »S« angeordnet wurden, wobei diese in der Gesamtschau als Augen lesbar werden. Durch die aus einem um 180 Grad gedrehten »W« gebildete stilisierte Behörnung und weitere Elemente wird der ovale Umriss des durch die spielerische Typografie angedeuteten Hauptes ornamental erweitert. Der wie zum Schrei aufgerissene Mund, der aus der Majuskel eines »O« gebildet wird, ist das visuell dominanteste Element der Grafik. Was in diesem querliegenden Buchstaben zu lesen ist, lässt sich auf der Abbildung hingegen nur schwer dechiffrieren: »Quick as a wink, a typeface can express the creative mood and spirit of a photographic idea printed on fine paper«. Durch das hier eingefügte Wortspiels (»typeface«) wird unser Augenmerk einmal mehr auf das Buchstaben-Gesicht gelenkt; dennoch wurde die Karte in die Untergruppe »Ungegenständliches« (300/40) eingerückt.
Der den Halsabschluss bildende Schriftzug »Westvaco«, der alle im Bild verwendeten Buchstaben umfasst, offenbart einen Hinweis auf die Provenienz dieser ungewöhnlichen Abbildung. Doch auch diese Information erhellt keinen politischen Zusammenhang, denn es handelt sich um einen Entwurf des US-amerikanischen Grafikdesigners Bradbury Thompson, der ursprünglich 1961 in einer Werbepublikation des US-amerikanischen Papierunternehmens Westvaco Corporation abgedruckt wurde. Laut Beischrift auf der Bildkarte fand die Grafik ihren Weg von dort aus zunächst in einen französischen Ausstellungskatalog, um anschließend als fotografische Reproduktion in den Bildindex zur Politischen Ikonographie zu gelangen. Zwar könnte der Betrachter im Zuge tiefergehender Recherchen herausfinden, dass es sich dabei ursprünglich um die linke Hälfte einer Doppelseite eben jenes Magazins mit dem Titel Westvaco Inspirations for Printers handelt, auf der die Illustration mit einer Ausstellungsansicht afrikanischer Masken und Fetische konfrontiert wird, dies scheint aber für die Bildkarte selbst keinerlei Relevanz zu besitzen; sie erscheint im Bildindex in dieser auf die beschriebene Abbildung reduzierten Form. Die Karte, mit der man zunächst keine spezifische Botschaft in Verbindung zu bringen vermag, reiht sich unter dem Oberbegriff »Motive« zwischen weitere politisch scheinbar nicht determinierte Bilderscheinungen ein und bietet Anlass dazu, einige Überlegungen über die Anordnungsprinzipien anzustellen, durch die solche Reproduktionen im Bildindex organisiert wurden.
Innerhalb der alphanumerischen Logik der Karteikartensammlung des Bildindex zur Politischen Ikonographie, die in 125 Oberkategorien und eine beträchtliche Anzahl von etwa 900 untergeordneten Rubriken gegliedert ist, dürfte aus der Perspektive des Nutzers auch die individuelle Benennung der Lemmata, die im Einzelnen begrifflich mehr oder weniger eindeutig eine spezifische Ikonografie indizieren, eine Rolle dabei spielen, ob und zu welchem Zeitpunkt während der Bildrecherche diese oder jene Kategorie konsultiert wird. Wer aus seinem individuellen musée imaginaire heraus an die Zettelkästen tritt, wird mit einiger Sicherheit erraten können, an welcher Stelle er auf die gesuchten Reproduktionen stoßen wird. Bestimmte Bilder, die aufgrund ihrer medialen Verbreitung längst Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses geworden sind, lassen sich in den ihnen entsprechenden Kategorien leicht finden: Beispielsweise wurde der malerische Kommentar Picassos zu den Luftangriffen auf die baskische Stadt Gernika im Jahr 1937 wie selbstverständlich in die Rubrik »Die Schrecken des Krieges« (255/50) aufgenommen. Bei diffuser gefassten Recherchen, zum Beispiel bei Fragen nach der herrschaftlichen Repräsentationstradition, würde der Suchende aller Wahrscheinlichkeit nach zunächst die Kategorie »Adel« (5) konsultierten und dann womöglich mit geschärftem Blick weitere Abteilungen sichten, etwa jene, die anhand des Lemmas »Bildnis« (85) die zugehörigen Darstellungen bietet. Doch die Befragung des Bildindex wird angesichts der Komplexität dieses monumentalen Zettelkastens in den seltensten Fällen derart eindimensional verlaufen. Eine so geartete Herangehensweise würde sogar die Intention der verästelten Ordnungskategorien unterlaufen, die sich durch die vielschichtige, oft assoziative Verknüpfung von visuellen Zeugnissen zu erkennen gibt.
Für die raum- und zeitübergreifende Analyse politischer Bildinhalte hat der Bildindex zur Politischen Ikonographie eine sowohl praktische als auch programmatische Grundlage geschaffen. Doch vor allem angesichts der inflationären Bildproduktion in Werbung und Massenmedien der jüngeren Dekaden sieht sich dessen Instrumentarium mit nicht unwesentlichen Herausforderungen konfrontiert. So schreibt Martin Warnke in der 1993 in erster Auflage erschienenen Broschüre zum Bildindex, dass die Untersuchung politischer Bildphänomene methodisch mit erheblichen Problemen behaftet sei: Denn das bildwissenschaftlich angelegte Forschungsziel der politischen Ikonografie könne nicht allein »in einem Katalog bloßer herrscherlicher Selbstinszenierungen und Machtphantasien« resultieren, »wie es in den bisherigen Analysen obrigkeitlicher Bildpolitik zumeist der Fall« gewesen sei (Martin Warnke: Politische Ikonographie, in: Bildindex zur politischen Ikonographie, Hamburg 1993, S. 5-12, S. 9). Artefakte künstlerischer Produktionen seien keine »Willensleistungen einer einzigen maßgeblichen Machtquelle« (ibid., S. 8), sondern vielmehr Akteure innerhalb eines komplexen Wechselwirkungsprozesses, eines reziproken Kommunikationssystems, bei dem die Interaktion zwischen einem Sender auf der einen, einem Empfänger der intendierten Botschaften auf der anderen Seite im Zentrum von Mitteilungen in politischen Räumen stünden. Der in der Broschüre programmatisch formulierten Leitidee der politischen Ikonografie liegt dabei zunächst ein demokratisches Bildverständnis zugrunde: »Diese einfachste Voraussetzung zwischenmenschlicher Mitteilung bedeutet für die herrschaftliche Bildproduktion, dass diese von ›oben‹ vom Besteller zwar veranlasst, deshalb aber von diesem noch nicht besetzt und determiniert sein muss […]« (ibid., S. 9).
Dass eine solche Charakterisierung der Bildzeugnisse im Hamburger Index nicht nur theoretisch erfolgte, sondern gleichermaßen für das verzettelte Konvolut gültig ist, wird auch mit Blick auf die Bildkarte mit der Illustration von Bradbury Thompson deutlich. Wir blicken hier auf eine Darstellung, die im enthierarchisierenden Nebeneinander von Reproduktionen aller Art unterschiedliche Verknüpfungsmöglichkeiten einfordert: Beim Anblick dieser Karte möchte man vielleicht an die typografischen Experimente der Dadaisten und Futuristen denken oder Überlegungen über die Wirkungsweise von Typografie auf Druckerzeugnissen unterschiedlicher politischer Funktionen anstellen, mit der die verspielte Abbildung aus der Rubrik »Motive« zwischen all den Plakaten, Zeitungsausschnitten oder Emblemen eloquente Vergleichskonstellationen eingeht. Die jenseits der konsolidierten Pfade von Stil- und Epochenbegriffen verlaufende Konfrontation in sich heterogener Bildphänomene folgt daher im Bildindex zur politischen Ikonographie demselben Organisationsprinzip, nach dem auch Warburgs Kulturwissenschaftliche Bibliothek angelegt war: dem »Gesetz der guten Nachbarschaft«.
Elif Akyüz
Bilder als Akteure des Politischen / Politische Ikonographie
Just published: Political Emotions in the Arts
Mnemosyne. Warburg International Seminar Papers, Volume 7
Politische Emotionen in den Künsten edited by Philipp Ekardt, Frank Fehrenbach and Cornelia Zumbusch January 2021, ISBN 978-3-11-071130-1 (hardcover), ISBN 978-3-11-072538-4 (eBook), € [D] 69,95 Languages: German & English Fear, worry, indignation, hate, contempt as well as trust, hope,…
Neuerscheinungen / Politische Emotionen / Warburg-Kolleg
Online: Vortrag des Wissenschaftspreisträgers der Aby-Warburg-Stiftung 2018: Andrea Pinotti, Mailand
Replik der Gewalt, Replik auf die Gewalt
Im Namen der Vorsitzenden der Aby-Warburg-Stiftung Katharina Fegebank, Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg, lud das Warburg-Haus am Dienstag, den 4. Dezember 2018 feierlich zum Vortrag des Wissenschaftspreisträgers der Aby-Warburg-Stiftung 2018, Andrea Pinotti. Cornelia…
Aby Warburg / Politische Emotionen / Publikationen / Wissenschaftspreis
Online: Vortrag von Irene Neverla, Hamburg
Emotionskulturen im (visuellen) Journalismus
Im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema „Politische Emotionen“ sprach Irene Neverla am Dienstag, den 27. November um 19 Uhr im Warburg-Haus über “Emotionskulturen im (visuellen) Journalismus”. Irene Neverla ist emeritierte Professorin für Journalistik und…
Politische Emotionen / Publikationen
Gespenster in Europa. Alternativen für ein anderes Zusammenleben
Themennachmittag mit Kuratorenführung im Kunstverein in Hamburg und Podiumsgespräch im Warburg-Haus
zur Ausstellung Klassenverhältnisse – Phantoms of Perception 17 Uhr Kuratorenführung in der Ausstellung mit Bettina Steinbrügge, Benjamin Fellmann und Tobias Peper Kunstverein, Klosterwall 23 19 Uhr, Warburg-Haus: Podiumsgespräch Gespenster in Europa. Alternativen für ein anderes…
Ausstellung / Politische Emotionen
Online: Vortrag von Hermann Kappelhoff, Berlin
Ein Gefühl für das Gemeinschaftliche: Das Genrekino als Erfahrungsraum urteilenden Denkens
Im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema „Politische Emotionen“ sprach am Dienstag, den 16. Oktober um 19 Uhr Hermann Kappelhoff im Warburg-Haus über das Genrekino als Erfahrungsraum urteilenden Denkens. Hermann Kappelhoff ist Professor am Seminar für Filmwissenschaft der FU Berlin…
Politische Emotionen / Publikationen
Political Emotions
Focus topic lecture series and events in the second half of the year 2018
The discussion of fear, sorrow, outrage or contempt, but as well of faith, hope, compassion, empathy or sympathy, as political forces is presently increased. A consensus seems to exist on the central role of emotions in political processes: They are presumed to be a driving force both of protest…
Politische Emotionen
Online: Vortrag von Aby-Warburg-Stiftungsprofessor 2018 Alexander Honold
Rausch, Taumel, Schicksalsergebenheit: Im Planetarium des Krieges
Am Montag, den 2.7.2018 lud die Vorsitzende der Aby-Warburg-Stiftung, Katharina Fegebank, Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg, zum Festvortrag des diesjährigen Stiftungsprofessors. Alexander Honold hielt seinen Vortrag im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema…
Politische Emotionen / Publikationen / Warburg-Professur
Thementag in der Hamburger Kunsthalle: Katastrophen und ihre Wahrnehmung
Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle und der Forschungsstelle »Naturbilder« zur Ausstellung »Entfesselte Natur. Das Bild der Katastrophe seit 1600«
Am 5. Juli fand in der Hamburger Kunsthalle im Rahmen des Jahresschwerpunktes »Politische Emotionen« als Kooperation des Warburg-Hauses, der Hamburger Kunsthalle und der Forschungsstelle »Naturbilder« der Universität Hamburg der Thementag Katastrophen und ihre Wahrnehmung zur Ausstellung…
Politische Emotionen
Der Vortrag von Fritz Breithaupt, Bloomington, am 21. Juni fällt leider aus
Die dunklen Seiten der Empathie
Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass der Vortrag von Fritz Breithaupt am Donnerstag, den 21.06.2018 kurzfristig aufgrund von höherer Gewalt ausfallen muss. Bedauerlicherweise konnte er infolge von Flugausfällen nicht wie geplant rechtzeitig zum Vortrag aus den USA anreisen. Wir bitten, den…
Politische Emotionen
Filmprojektion im Lesesaal: Noam Chomsky und die Medien
»Die Konsensfabrik« (Can, 1992) in Kooperation mit »Flexibles Flimmern«
Das Warburg-Haus fragt 2018 mit seinem Schwerpunktthema nach der politischen Bedeutung von Emotionen. Angst, Sorge, Empörung oder Verachtung, aber auch Vertrauen, Hoffnung, Mitleid, Empathie oder Sympathie werden momentan als politische Kräfte verstärkt diskutiert. Während die einen den Mangel…
Politische Emotionen
Antiromantisches Manifest
Lesung der französischen Autorin Marie Rotkopf, anschließend Gespräch mit Frank Adloff (Universität Hamburg), Moderation: Benjamin Fellmann (Warburg-Haus)
Im Rahmen des Jahresschwerpunktes Politische Emotionen las am Donnerstag, den 29. Mai 2018 die französische Schriftstellerin, Künstlerin und Kulturkritikerin Marie Rotkopf im Warburg-Haus aus ihrem Antiromantischen Manifest. Die Veranstaltung fand als Kooperation mit dem Verlag Edition Nautilus,…
Politische Emotionen
Online: Vortrag von Sigrid Weigel
Vom Mitgefühl
Im Rahmen der Vortragsreihe zum Schwerpunktthema Politische Emotionen sprach Sigrid Weigel am Dienstag, den 15.5.2018 im Warburg-Haus »vom Mitgefühl«. Sigrid Weigel ist seit 2005 Regular Visiting Professor at the German Dept. of Princeton University, ehemalige Direktorin des ZfL Zentrums für…
Politische Emotionen / Publikationen
Online: Vortrag von Hans-Peter Krüger
Zur politischen Gefühlskultur in der Demokratie
Auftaktvortrag zur Vortragsreihe zum Schwerpunktthema Politische Emotionen am 26.4.2018 im Warburg-Haus von Hans-Peter Krüger, Inhaber der Professur für Politische Philosophie/ Philosophische Anthropologie an der Universität Potsdam. Die Aufzeichnung erfolgte durch das Team des eLearning-Büros…
Politische Emotionen / Publikationen
Filmprojektion im Lesesaal: Aby Warburg und der Erste Weltkrieg
"Rather Die Than Die" (F, 2017) von Natacha Nisic mit »Flexibles Flimmern«
Am Montag, den 16. April 2018 und Dienstag, den 17. April zeigte das Warburg-Haus in Kooperation mit »Flexibles Flimmern. Das mobile Kino« im vollen Lesesaal den Film Rather Die Than Die (Eher Sterben als Sterben) der Pariser Künstlerin Natacha Nisic. Der Film ist eine Auftragsarbeit des…
Politische Emotionen
Neuerscheinung DVD »Rather Die Than Die« von Natacha Nisic
Ein Film der Pariser Künstlerin über Aby Warburg und den I. Weltkrieg, der zum Teil im Warburg-Haus gedreht wurde
Für ihren jüngsten Film »Plutôt mourir que mourir« / »Rather Die Than Die« (Eher Sterben als Sterben), eine Auftragsarbeit des französischen Kulturministerium unter Federführung des Centre national des arts plastiques aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums des Endes des I. Weltkrieges…
Neuerscheinungen / Politische Emotionen
Political Emotions
Focus Topic 2018
The discussion of fear, sorrow, outrage or contempt, but as well of faith, hope, compassion, empathy or sympathy, as political forces is presently increased. A consensus seems to exist on the central role of emotions in political processes: They are presumed to be a driving force both of protest…
Politische Emotionen