Journal
Bildkarte des Monats: Juni
Fundstücke aus dem Digitalisierungsprojekt »Bildindex zur Politischen Ikonographie«
Der politische Gehalt der Ellipse
Von Aby Warburg zu Martin Warnke
Das Herzstück im ehemaligen Gebäude der K.B.W. von 1925/1926 ist der elliptische Lesesaal. Johannes Keplers Publikation der elliptischen Planetenlaufbahnen 1609 galt Warburg als neuzeitliche »Markscheide der Kulturepochen« (Brief an Mary Hertz, 10. April 1924, vgl. Horst Bredekamp u. Claudia Wedepohl, Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch, Berlin 2015, S. 46). Seiner Rückkehr aus dem Sanatorium 1924 und dem Bau vorangegangen war sein Zusammenbruch unter dem Eindruck des 1918 zu Ende gegangenen Ersten Weltkrieges, dessen Ereignisse er in einer »Kriegskartothek« zu erfassen versucht hatte. Warburg studierte auch den politischen Bildeinsatz in der Kriegspropaganda und wurde so angeregt zur Arbeit über Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1917/1920). An diese durch das »Dritte Reich« unterbrochene Tradition konnte unter Martin Warnkes Leitung insbesondere mit dem Bildindex zur Politischen Ikonographie, seit 1995 im Warburg-Haus, angeknüpft werden. Unter dessen Motivkategorien führt uns eine ganz besondere tief in Logik und Anliegen der politischen Ikonografie. In der Kategorie »Architektur« findet sich in der ersten Unterkategorie »Allgemein« (37/10), zwischen dort zu erwartenden Stichworten – »Bauen«, »Traktate«, »Entwürfe/Pläne«, »Architekturglieder«, »Interieur«, »Kirchen/Tempel«, »Villen/Paläste«, »Militär/Burgen«, »Sportplätze«, »Speicher«, »Naziarchitektur«, »Verwertung« und »Allegorie/Symbolik« – ein erstaunliches Lemma: »Ellipsen.« Warum wird hier ein geometrisches Element eingereiht? Warum wird die gebaute Ellipse zu einer Kategorie der politischen Ikonografie?
Einen Hinweis gibt uns jene, unter den 58 hier versammelten eher unscheinbare Bildkarte, die auf einem abgeschnittenen Fotoabzug von 9 mal 5,5 Zentimetern den Ausschnitt eines in Vogelperspektive gezeichneten Stadtplans zeigt. Sechs schriftliche lateinische Bezeichnungen erlauben eine geografische Verortung: Am oberen Bildrand »Capitolium«, schräg darunter »Ara Coeli« – wir befinden uns also in Rom und sehen im linken oberen Bildviertel die markante Ansicht der Piazza del Campidoglio, auf der wir mit etwas Mühe ein Reiterstandbild inmitten einer durch einen leicht abgeflachten Kreis markierten Platzanlage ausmachen. Einem bibliografischen Hinweis zufolge wurde eine Tafel aus den Kunstgeschichtliche Studien zu Renaissance und Barock (1967) des exilierten jüdischen Kunsthistorikers Jacob Hess (1885-1969) fotografiert, mit einem Detail aus dem Rom-Plan von Étienne Dupérac, gestochen von Antoine Lafréry, von 1577 (Roma prima di Sisto V. La pianta di Roma du Pérac-Lafréry del 1577, Rom 1908, online hier). In einer anderen Handschrift, derjenigen von Martin Warnke, lesen wir in rotem Kugelschreiber die Beschriftung »37/10 430 Ellipse«. Er korrigierte mithin eine erste Zuordnung in die Kategorie »Stadtikonographie« (430). Der Vergleich zeigt, dass sie eine der ersten Karten unter »Ellipsen« gewesen sein muss. Auf allen anderen sind zudem Ellipsen das dominante Bildmotiv, meist in Zeichnungen der römischen Barockarchitekten Bernini, Pietro da Cortona, Carlo Rainaldi, Andrea Pozzo, Carlo Fontana und (mehrheitlich) Borromini, sowie ihrer Vorgänger Francesco da Volterra, Baldassare Peruzzi, Sebastiano Serlio und Vignola.
Als einzige Karte bildet sie nicht eine Ellipse selbst ab. Unser Auge wird durch die Straßenführung geleitet zu einem an vier Seiten eines Platzes von Gebäuden, einer Mauer und einer breiten Treppe eingefassten Reiterstandbild, um das auf dem Boden ein abgeflachter Kreis eingelassen ist. Erst bei näherem Hinsehen stellen wir fest, dass offensichtlich der Versuch unternommen wurde, die Ansicht von schräg oben akkurat umzusetzen und dies daher ein perspektivisch verformtes Oval sein muss. Tatsächlich handelt es sich nicht um irgendeine Ellipse: Dupéracs Stadtplan legt Zeugnis ab von der Umgestaltung des Kapitols in Rom, zu der Papst Paul III. 1536 Michelangelo berufen hatte. 1538 wurde das antike Reiterstandbild Mark Aurels aus Bronze, das seit dem frühen Mittelalter vor dem Lateran gestanden hatte, hier auf einen ovalen Sockel gestellt. Michelangelos Entwürfe für das Kapitol sind in Stichen Dupéracs von 1567 bis 1569 überliefert, darunter jener des Platzes mit einem riesigen in den Boden eingelassenen Oval aus zwei umlaufenden flachen Stufen, die ein komplexes sternförmiges Bodenmuster umschließen (online hier). Der caput mundi, Rom als Haupt der Welt, erhielt hierdurch seine ideelle Mitte.
Welche politische Bedeutung aber kommt nun Ellipsen im Kontext des Bildindex zu? Die Bildkarte gibt uns dazu einen Schlüssel. Unter den Gegenständen der politischen Ikonografie nimmt Architektur heute einen zentralen Stellenwert ein, aber erst spät hat, so Martin Warnke, die »in der privaten Bibliothek Aby Warburgs und von ihr ausstrahlend« erarbeitete Kulturgeschichte auch auf die Architekturforschung übergegriffen (Politische Architektur in Europa vom Mittelalter bis heute, Köln 1984, S. 9). Zur Verdeutlichung hält er fest, dass ein Vortrag von Fritz Saxl, nach Warburgs Tod 1929 Leiter der K.B.W., aus dem Jahr 1938 »wohl überhaupt der einzige Fall [ist], daß sich aus dem engeren Kreis um Warburg jemand zur Architektur geäußert hat«. In seinem Text behandelt Saxl nicht irgendeine politische Dimension von Architektur, sondern jene im Zentrum des Abendlandes und des Nachlebens der Antike: The Capitol during the Renaissance – A Symbol of the Imperial Idea erschließt uns die politische Bedeutung des Kapitols seit seinen Anfängen als paganes religiöses Zentrum des römischen Weltreichs: »[…] legend represents the Capitol as the seat of government, which it never was. World government and the symbol of the Capitol became inseparable in men’s minds« (Saxl, Lectures, London 1957, S. 200 ff.). Das ruinenbestandene Kapitol war schon 1341 mit der Krönung Petrarcas zum Dichterfürsten und Cola di Rienzos Aufstand gegen den Stadtadel 1347 Schauplatz der Inszenierung politischen Selbstverständnisses. Aber erst in der Renaissance wurde es umgestaltet zum weltlichen Gegenpol des kirchlichen Zentrums mit Sankt Peter. Michelangelo fand kongeniale Lösungen von der breiten cordonata als neuer Treppe bis zum ovato der Platzanlage und der Gebäudeanordnung nach Art einer Agora mit Konservatorenpalast und Palazzo Nuovo als konvergierenden Seitenflügeln vor dem Senatorenpalast, deren Realisierung über hundert Jahre dauerte. Sixtus IV. hatte 1471 schon einige römische Bronzen, darunter die kapitolinische Wölfin, aus dem Lateran dorthin bringen lassen. Aber dass Päpste hier wieder an die Idee des römischen Reiches anknüpften, hatte vor allem begonnen, als Leo X. 1515 im Vorgängerensemble aus Santa Maria in Aracoeli, administrativem Zweckbau und Marktplatz antike Reliefs aus der nahen Kirche Santa Martina (ab 1588 SS. Luca e Martina), die Mark Aurel in der Schlacht, im Triumphwagen und beim Tempelopfer auf dem Kapitol zeigen, öffentlich mit Hinweis auf diesen triumphator Romanorum imperator anbringen ließ. Indem Paul III. und Michelangelo dann dessen Reiterstandbild ins Zentrum des neuen Entwurfes rückten, zeigen sie Intentionen, das Kapitol in seiner früheren Größe wiederauferstehen zu lassen und im humanistischen Geiste an die klassische Antike anzuknüpfen: Mark Aurel symbolisiert jenen Regenten, der sowohl Kaiser als auch Philosoph war.
Die Ellipse als Denkfigur einer ständigen polaren Ausgleichsleistung ist für Warburg der Schlüssel zur Kulturgeschichte der Menschen. Ihre echte politische Dimension als Symbol einer Idee aber erschließt uns die Bildkarte zum Kapitol über ihre Verbindung mit Warburgs Forschungssensorium zu moderner nationalistischer Bildpropaganda: Auf der Bildkarte ist die Ellipse auf dem Kapitol im Zustand von 1577 leer, denn das komplexe Bodenmuster blieb unausgeführt; allein die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts brachte ihr ein einfaches Strahlenmuster. Was heute als Michelangelos sternförmiger Entwurf weltbekannt ist, wurde aber erst 1940 ausgeführt, und zwar unter Mussolini als Teil der faschistischen Neuerfindung der römischen klassischen Antike in Anknüpfung an imperiale Großreichsideen. In der Politik holte die Geschichte die Kunst ein. Aby Warburg hat das nicht mehr erlebt. Auch bei Fritz Saxls Vortrag 1938 existierte das posthume Michelangelo-Werk noch nicht, aber er erwähnte die Instrumentalisierung des Kapitols und der römischen Antiken auf dem Forum, die Mussolini neben dem 1927 vollendeten Vittoriano und seinem Regierungssitz im Palazzo Venezia betrieb. Saxl schloss mit den Worten: »The birth, growth and death of symbols, their revival and combination with modern ideas, make European history« (ibid., S. 214). Genau dies macht uns auch Martin Warnke deutlich nicht nur mit der bloßen Aufnahme der Ellipse als zentralem Symbol Warburgs in den Bildindex, sondern auch als Verweis auf Symbole, die immer wieder neu mit modernen Ideen kombiniert werden und Geschichte machen.
Benjamin Fellmann
Bilder als Akteure des Politischen / Politische Ikonographie
Just published: Political Emotions in the Arts
Mnemosyne. Warburg International Seminar Papers, Volume 7
Politische Emotionen in den Künsten edited by Philipp Ekardt, Frank Fehrenbach and Cornelia Zumbusch January 2021, ISBN 978-3-11-071130-1 (hardcover), ISBN 978-3-11-072538-4 (eBook), € [D] 69,95 Languages: German & English Fear, worry, indignation, hate, contempt as well as trust, hope,…
Neuerscheinungen / Politische Emotionen / Warburg-Kolleg
Just published: Klassenverhältnisse. Phantoms of Perception
Edited by Benjamin Fellmann and Bettina Steinbrügge. Koenig Books and Kunstverein in Hamburg, 2020
with contributions from Frank Adloff, Barton Byg, Didier Eribon, Harun Farocki, Benjamin Fellmann, Ted Fendt, Hanna Klimpe, Catherine Perret, Bettina Steinbrügge, Jean-Marie Straub and works by Neïl Beloufa, Benedikte Bjerre, Monica Bonvicini, Antje Ehmann, Harun Farocki, Jan Peter Hammer, Thomas…
Bilder als Akteure des Politischen / Neuerscheinungen
Just published: Memorial Landscapes. World Images East and West
Mnemosyne. Warburg International Seminar Papers, Volume 6
edited by Uwe Fleckner, Yih-Fen Hua and Shai-Shu Tzeng December 2020, ISBN 978-3-11-065646-6, € [D] 69,95. English As an everyday fact and an object of artistic design, landscape is a central category of human experience. Political, social, cartographic, and economic, but also philosophical and…
Neuerscheinungen / Warburg-Kolleg
Just published: Images of Rulers and Mirrors of Princes
Volume 25 of the Warburg-Haus Studies
Herrscherbild und Fürstenspiegel. Eine ikonische Politologie by Johannes von Müller July 2020, ISBN 978-3-11-068048-5 (hardcover), € [D] 69,95 Language: German Das Herrscherbild des Mittelalters ist nicht bloß Quelle politischer Geschichte, es zählt zu ihren Akteuren. Dies aufzuzeigen, werden…
Neuerscheinungen
Just published: Beyond Egyptomania. Objects, Style and Agency
Volume 21 of the Warburg-Haus Studies
edited by Miguel John Versluys June 2020, ISBN 978-3-11-056425-9 (hardcover), ISBN 978-3-11-056584-3 (eBook), € [D] 68,95 The material and intellectual presence of Egypt is at the heart of Western culture, religion and art from Antiquity to the present. This volume aims to provide a long term and…
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Just published
Volume 14 of the Warburg-Haus Lectures
The fourteenth volume of Warburg-Haus Lectures brings together articles with topics ranging from the »Pillar of Angels« of the Strasbourg Cathedral to views of the island of Taiwan on leather wall hangings of the 18th and 19th centuries and Donald Trump’s use of images. With contributions…
Neuerscheinungen
Just published: Balance. Figuren des Äquilibriums in den Kulturwissenschaften
Volume 23 of the Warburg-Haus Studies
edited by Eckart Goebel and Cornelia Zumbusch February 2020, ISBN 978-3-11-060382-8 (hardcover), ISBN 978-3-11-060528-0 (eBook), € [D] 79,95 [Balance. Concepts of equilibrium in cultural studies] Language: German Konzepte des Ausgleichens und Aufwiegens, Balancierens und Kompensierens gehören…
Neuerscheinungen
Just published: Das verirrte Kunstwerk. Bedeutung, Funktion und Manipulation von »Bilderfahrzeugen« in der Diaspora
Volume 20 of the Warburg-Haus Studies
edited by Uwe Fleckner and Elena Tolstichin November 2019, Copyright 2020 ISBN 978-3-11-054463-3 (hardcover), ISBN 978-3-11-054568-5 (eBook), € [D] 69,95 From time immemorial, works of art have been moved in space and time to locations that are significantly different from the places they are…
Neuerscheinungen
Just published: Palais de Tokyo. Art politics and aesthetics in the 20th and 21st century
Volume 22 of the Warburg-Haus Studies
Palais de Tokyo. Kunstpolitik und Ästhetik im 20. und 21. Jahrhundert by Benjamin Fellmann September 2019, ISBN 978-3-11-062373-4 (gebunden), 978-3-11-062661-2 (eBook), € [D] 69,95 Language: German Since the beginning of the 20th century, the monumental Palais de Tokyo in Paris has been a…
Neuerscheinungen
Just published: Migrating Histories of Art. Self-Translations of a Discipline
Volume 19 of the Warburg-Haus Studies
edited by Maria Teresa Costa and Hans Christian Hönes December 2018, ISBN 978-3-11-048587-5, Euro [D] 69,95 Art historians have frequently been faced with the challenge of writing for an international audience and translating their own work into a foreign language – whether forced by exile,…
Neuerscheinungen
Just published: Aby Warburg: Images from the Territory of the Pueblo Indians in North America. Lectures and photographs
Volume III.2 of Aby Warburg's Collected Writings - Study Edition, edited by Uwe Fleckner
Volume III.2 of Aby Warburg’s Collected Writings in the study edition has just appeared: Bringing together Warburg’s lectures and photographs, »Images from the Territory of the Pueblo Indians in North America« was edited by Uwe Fleckner. In September 1895, Aby Warburg started out on his…
Aby Warburg / Neuerscheinungen
Neuerscheinung DVD »Rather Die Than Die« von Natacha Nisic
Ein Film der Pariser Künstlerin über Aby Warburg und den I. Weltkrieg, der zum Teil im Warburg-Haus gedreht wurde
Für ihren jüngsten Film »Plutôt mourir que mourir« / »Rather Die Than Die« (Eher Sterben als Sterben), eine Auftragsarbeit des französischen Kulturministerium unter Federführung des Centre national des arts plastiques aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums des Endes des I. Weltkrieges…
Neuerscheinungen / Politische Emotionen
Idols and Museum Pieces. The Nature of Sculpture, its Historiography and Exhibition History 1640-1880
Band 17 der Studien aus dem Warburg-Haus
herausgegeben von Caroline van Eck Mai 2017, ISBN 978-3-11-040691-7, Euro [D] 49,95 Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums 1764 gilt als Ausgangspunkt der modernen wissenschaftlichen Erforschung von Skulptur. Er zeichnet darin eine fomalistische und profane Geschichte, die die Staute als…
Neuerscheinungen
Neuerscheinung: Magische Bilder
Mnemosyne. Schriften des internationalen Warburg-Kollegs, Band 5
“And if you were to ask me / After all that we’ve been through / Still believe in magic? / Yes, I do.” Diese Zeilen aus “Magic” von Coldplay stellen Uwe Fleckner und Iris Wenderholm ihrem einleitenden Aufsatz “Magie und Metapher. Wirkmächtige Bilder in…
Neuerscheinungen / Warburg-Kolleg
Neuerscheinung
Band 13 der Vorträge aus dem Warburg-Haus
Soeben ist Band 13 der Vorträge aus dem Warburg-Haus erschienen mit Themen von Caesar über E.T.A. Hoffmann bis Franz Marc, von „Diskurs und Handlungsrahmen” über „Darstellen als Handlungsform” bis zu „Folgen des Kreativitätsdispositivs”. Wir wünschen anregende…
Neuerscheinungen
Neuerscheinung: The Afterlife of the K.B.W.
Band 12 der Vorträge aus dem Warburg-Haus
Ende 1933 verließ die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg Hamburg. Der Dampfer Hermia brachte Bücher, Notizen, sogar Mobiliar aus der Heilwigstraße in Hamburg nach London. Der Band versammelt Aufsätze zur Emigration der K.B.W. und ihrer Entwicklung als Warburg Institute in London. (hoi)…
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