Tagebuch
Online: Artist Talk mit Albert Serra, »The Three Little Pigs«
In Kooperation mit dem Kunstverein in Hamburg: Albert Serra im Gespräch mit Bettina Steinbrügge und Benjamin Fellmann
Der Kunstverein in Hamburg zeigt vom 19.6. bis 15.8.2021 Albert Serras monumentalen Film The Three Little Pigs in einer großen Mehrkanal-Installation zur gleichnamigen Einzelausstellung. In einer Kooperationsveranstaltung im Rahmen des Schwerpunktthemas am Warburg-Haus 2021 »Bilder als Akteure des Politischen« spricht Albert Serra, einer der bedeutendsten Filmemacher der Gegenwart, mit Bettina Steinbrügge (Kunstverein in Hamburg, Kuratorin der Ausstellung) und Benjamin Fellmann (Warburg-Haus) über Entstehung und Inhalt des Werks und die eindrückliche Installation im Kunstverein.
Der Artist Talk wurde zur Eröffnung der Ausstellung am 19. Juni aufgezeichnet und steht online bereit. Ein Booklet mit einem Text zu The Three Little Pigs von Bettina Steinbrügge und Benjamin Fellmann steht unten als Download zur Verfügung.
Der katalanische Filmemacher Albert Serra zählt international zu den einflussreichsten und radikalsten Vertretern der filmischen Avantgarde der Gegenwart. Er realisierte The Three Little Pigs 2012 in Kassel über die gesamte hunderttägige Laufzeit der documenta 13. Dieser »längste Film der Welt« (Der Standard) ist ein Portrait über Deutschland und eine ins Bild gesetzte Reflexion darüber, wie Geschichte und die Vorstellungen, die wir uns von ihr machen, entstehen. Dafür folgt er Erzählungen von drei zentralen Figuren der deutschen Kulturgeschichte: Goethe, Hitler und Fassbinder. Der Film mit einer Laufzeit von 101 Stunden ist die wortgetreue Verfilmung von Johann Peter Eckermanns Gesprächen mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (publiziert in drei Teilen 1836–1848) sowie der Auswahl von Hitlers Tischgesprächen, deren englische Übersetzung der britische Historiker Hugh Trevor-Roper 1953 herausgegeben hatte (erschienen zuerst 1951 als erste Veröffentlichung des Instituts für Zeitgeschichte München). Die Strukturen, Dialoge, Chronologien und tagebuchartigen Charaktere der Texte bleiben dabei vollständig erhalten und werden genauestens in Szene gesetzt, wobei in Goethes Fall die Beschreibungen der Situationen als Grundlage der Umsetzung dienen und Text, der in der dritten Person steht, in die erste umgesetzt wird. Im Falle der Tischgespräche Hitlers bleiben die Dialoge unverändert, zur Situierung der Gespräche werden ergänzend historische Studien herangezogen. Als drittes Textdokument zieht Serra Interviews und Statements aus dem von Robert Fischer herausgegebenen Band Fassbinder über Fassbinder: Die ungekürzten Interviews (2004) heran.
Die Figur und Äußerungen Fassbinders dienen ihm als Gegengewicht zur Stringenz der beiden anderen Teile, er selbst eignet sich Fassbinders Figur und Ansichten über Deutschland, Kunst und Film an, um sie ergänzt mit persönlichen und intimen Aspekten, frei den anderen beiden gegenüberzustellen. Diese Texte werden weder dramatisiert, noch gibt es Improvisationen oder Abweichungen: Seite für Seite spielen die Schauspieler*innen Johann Wolfgang von Goethe, Adolf Hitler und Rainer Werner Fassbinder, indem sie diese Veröffentlichungen komplett und wortgetreu zitieren.
Die Arbeit hat heute in einer politischen Landschaft, die sich gegenüber jener zu ihrer Entstehungszeit vor wenigen Jahren rasant und dramatisch gewandelt hat – dazwischen liegen die Gründung der AfD (2013), die sogenannte »Migrationskrise« (2015), das Brexit-Referendum und die Wahl Donald Trumps (2016), der Einzug der AfD in den Bundestag (2017), um nur einige Eckpunkte zu nennen – weitere Aktualität gewonnen, die sie ihrem künstlerischen Reflexionspotenzial verdankt.
Serras hunderstündiger Film lässt sich verstehen als eine Übung in Aufmerksamkeit darin, sich nicht überwältigen zu lassen. Wo es sich um einen fortlaufenden Strom aus Rede handelt, wird eindringlich klar, dass Worte nie bloß als solche abgetan werden sollten. Was sagt das gegenwärtige Bild von der deutschen Vergangenheit über den zeitgenössischen Zustand der Gesellschaft aus? Und wie können wir uns unseren Geschichtsbildern kritisch nähern?
Seit seinem aufsehenerregenden Debüt Honor de Cavalleria (2006) fanden all Filme von Albert Serra (*1975) große Beachtung bei Festivals. Història de la Meva Mort (2013) wurde mit dem Hauptpreis auf dem Locarno Film Festival ausgezeichnet. Sein Kino ist der Reduktion verpflichtet. Er arbeitet mit einem kleinen, bewährten Team, geringem Budget und immer mit Laiendarsteller*innen. Serra, der Literatur und Kunstgeschichte studiert hat, beschäftigt sich in seinen Filmen mit bekannten literarischen bzw. historischen Figuren – Don Quijote, die Heiligen Drei Könige, Casanova und Dracula –, ohne dass es sich dabei um klassische Adaptionen handeln würde. Er entschlackt Stoffe von mythischem Ballast, um ihre gegenwärtige Bedeutung auszuloten.
Text von Bettina Steinbrügge und Benjamin Fellmann
Ausstellung / Bilder als Akteure des Politischen / Publikationen
Neuerscheinung: Politische Emotionen in den Künsten
Mnemosyne. Schriften des internationalen Warburg-Kollegs, Band 7
herausgegeben von Philipp Ekardt, Frank Fehrenbach und Cornelia Zumbusch Januar 2021, ISBN 978-3-11-071130-1 (gebunden), ISBN 978-3-11-072538-4 (eBook), € [D] 69,95 Angst, Sorge, Empörung, Hass, Verachtung, aber auch Vertrauen, Hoffnung, Mitleid, Empathie oder Sympathie gelten als Movens sowohl…
Neuerscheinungen / Politische Emotionen / Warburg-Kolleg
Neuerscheinung: Memorial Landscapes. World Images East and West
Mnemosyne. Schriften des internationalen Warburg-Kollegs, Band 6
herausgegeben von Uwe Fleckner, Yih-Fen Hua und Shai-Shu Tzeng Dezember 2020, ISBN 978-3-11-065646-6, € [D] 69,95. Englisch Als lebensweltliche Tatsache sowie als Gegenstand künstlerischer Gestaltung ist Landschaft eine zentrale Kategorie menschlicher Erfahrung. Politische, soziale,…
Neuerscheinungen / Warburg-Kolleg
Call for Papers: Internationales Warburg-Kolleg 2018 »Politische Emotionen in den Künsten«
Deadline 31. März 2018
Philipp Ekardt, Frank Fehrenbach, Cornelia Zumbusch Die Rolle von Emotionen in der Politik wird gegenwärtig intensiv debattiert. Gefühle wie Vertrauen, Hoffnung, Angst, Empörung oder Verachtung sind in Soziologie, Politologie bzw. politischer Philosophie als Movens von Protestbewegungen, als…
Call for Papers / Warburg-Kolleg
Neuerscheinung: Magische Bilder
Mnemosyne. Schriften des internationalen Warburg-Kollegs, Band 5
„And if you were to ask me / After all that we’ve been through / Still believe in magic? / Yes, I do.“ Diese Zeilen aus „Magic“ von Coldplay stellen Uwe Fleckner und Iris Wenderholm ihrem einleitenden Aufsatz „Magie und Metapher. Wirkmächtige Bilder in…
Neuerscheinungen / Warburg-Kolleg
Landschaft wahrnehmen
Mit dem Warburg-Kolleg "Memorial Landscapes" in Taipeh II
Zwei Meter, vielleicht drei. Weiter wagen wir uns nicht vor die Türe des Hotels, bis uns der peitschende Wind mit zerzausten Haaren wieder zurückgehen lässt. In Taipeh fegt der Taifun. Während des Wirbelsturms lassen die staatlichen Vorgaben das öffentliche Leben brachliegen, Schulen und…
Warburg-Kolleg
Landschaft beschreiben
Mit dem Warburg-Kolleg "Memorial Landscapes" in Taipeh I
Unerwartet ist die Lautstärke, das unablässliche Rauschen, mit dem sich der tiefgraue Liwu-Fluss durch die hochaufragenden Felsen schiebt und dort in Jahrmillionen seinen Weg durch die erodierten Marmorschichten hindurch gefunden hat. Dort in der Taroko-Schlucht, unweit von Taipeh gelegen, nimmt…
Warburg-Kolleg
Memorial landscapes. World images East and West
International Warburg Seminar starts next week in Taipei
Hamburg University / Aby Warburg Foundation, Hamburg, in cooperation with National Taiwan Normal University and National Taiwan University, Taipei The 2016-2017 International Warburg Seminar, to be held in Taipei on 26-30 September 2016 and in Hamburg on 3-7 April 2017 and aimed at doctoral…
Warburg-Kolleg